Kerstin Hensel
Alle Wetter
Gesunder Pestgeruch
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Kerstin Hensel
Alle Wetter
Gedichte
Luchterhand 2008
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„Ich käm dir gern mit spitzen Zehen / Und nicht mit spitzer Zunge“, steht symptomatisch für den neuen Gedichtband von Kerstin Hensel. Alle Wetter ist eine Folterkammer der ureigenen Ehrlichkeit, durch deren sinnliche Aufladung Erkenntnis möglich wird. In Wut und Sprachgewalt drängt Hensel mit ihren object touvés des Gedächtnisses in das Bewusstsein des Lesers.
Der in fünf Kapitel eingeteilte Gedichtband der 1961 in Karl-Marx-Stadt geborenen Autorin ist gekommen, um sich zu beschweren: „Es fehlt Ihnen, Frau, / Hensel, / Die Fähigkeit, den Dreck einfach / Abzuhusten wie andere Leute es tun“. Kerstin Hensel ist eine zu wache Beobachterin und lässt den Leser „hörn, worüber andere schweigen“. Egal ob Medien, Sozialpolitik oder Sozialismus, Kerstin Hensel bezieht Stellung und zeigt ein gesundes Misstrauen gegenüber Politik, sowie Poetologie.
In einer Sprachbewegung wie seit Heiner Müller nicht mehr legt sie ihre Meinung offen zum „frohwüchsigen deutschen Mehrzweckschwein“. Häufig erscheint Zynismus die einzige Antwort auf die Schieflage. Ob eine Band namens Kalaschnikow mit zündenden Rhythmen oder Mottenfraß im blauen Halstuch und den Überresten „Für Frie n und So mus sei b reit“, letztendlich „blicken wir bös aus der Ahnenwand auf die Kommenden / Lustig zwitschernden Generationen“.
Anmaßung kann man ihr gleichwohl nicht vorwerfen, da sie sich ebenso in eine einfühlende Perspektive zurücknehmen kann. Hensel besitzt stilistisch und sprachlich ein enormes Repertoire, das sie je nach Lage divers einzusetzen vermag. Ihr lyrisches Ich ist kein klar konturiertes Subjekt, das sich selber inszeniert, sondern es sind Stimmenpartituren, die auf den Vortrag hin ausgerichtet sind. Ihre Vielschichtigkeit zeigt Hensel auch in Hinblick auf die Literaturgeschichte, die sie mit genialen Pastichen auf unter anderen Kant, Heine oder Storm aufgreift.
Herausstechendes Kapitel ist Nach Sachsen kehre ich nicht heim, in dem sie ihre sozialistische Vergangenheit bearbeitet. Die DDR und ihre Gesellschaft waren immer wieder Themen bei Hensel, allerdings nie in einem Nachtrauern, sondern aus einer eigenen Alltags- und Lebenserfahrung heraus. Dies endet nicht selten im Paradox und in Skurrilität. Diese persönliche Vergangenheitsbewältigung ist nicht nur eine deutsch-deutsche, sondern Hensel befriedigt damit auch die Stimmen, die mehr Zeitgeschehen und Politik in der deutschen Lyrik fordern – jedoch nicht ohne einen moralisierenden Unterton.
Was dem Leser von Hensel unweigerlich in Erinnerung bleiben wird, ist ihr Experiment mit prägnanten Wendungen und Periphrasen, mit denen sie nicht einmal vor Kalauern zurückschreckt. Sie benutzt Redewendungen wie „Hochzeiten / Fallen ins Wasser“ in bildlich ursprünglichen Sinn, wodurch sie der Leser unlexikalisiert reflektieren darf, und variiert auch schon mal Anleihen aus Märchen: „Noch weiß ich ach wie gut dass niemand / Weiß nicht weiter“. Durch diese überlappenden Sprachebenen schafft es Hensel zum einen den Inhalt in seiner Wirksamkeit zu unterstreichen, zum anderen bietet sie damit eine Auflockerung für den Leser. Zugleich bedeutet das auch die Unfassbarkeit Hensels. Zwar beschwört sie ihre Anliegen mit Nachdruck, dies wird aber durch die Redewendungen unterminiert, wodurch es gleichsam auch wieder nicht festgelegt ist.
Trotz aller Überspitzung bleibt Hensel Realistin in ihrem eigenen Stil: „Hier vorn stürzt was ein / Und da hinten fängt nichts an“. Die Pfeile ihrer Signifikanten verweisen in diverse Richtungen und besitzen einen starken Sog, womit sie viel Realität in das Geflecht holen. Hensel serviert so dem Leser eine intertextuelle und zugleich realitätsbezogene Reichhaltigkeit. Und das wird mutmaßlich auch so bleiben, denn Hensel wird immer ihre Stimme erheben und schreckt auch nicht davor zurück das lyrische Ich zum Märtyrer zu stilisieren: „Nur der rechte Zeigefinger / Bleibt mir noch. Ich hebe ihn“.
Kerstin Hensel, 1961 in Karl-Marx-Stadt geboren, erhielt unter anderem den Anna-Seghers-Preis, den Leonce-und-Lena-Preis und den Ida-Dehmel-Literaturpreis. Sie ist Professorin an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch und Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste. Zuletzt erschienen von ihr die Romane Falscher Hase (Luchterhand 2005) und Lärchenau (Luchterhand 2008).
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Walter Fabian Schmid 09.05.2008
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Walter Fabian
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