Wenn Lyrik und Politik aufeinander Kurs nehmen, ist fast immer ein Konflikt in der Gedichtpolitik vorprogrammiert. Die einen meinen, die Politik tauge nicht als Thema für die Lyrik, die anderen, dass Gedichte kein probates Darstellungsmittel für die Politik sind. Der Streitpunkt der Vereinbarkeit beider Bereiche wird sich nur schwer beseitigen lassen, und das ist gut so. So überlegt man sich erst einmal wieder, was Lyrik überhaupt ist, und was ihre Funktionen sind; so überlegt man sich, was überhaupt politisch, und was noch politisch ist. Als Lyriker kann man sich wohl kaum eine bessere Ausgangslage als bei politischen Gedichten wünschen. In keinem lyrischen Genre geht die Intention des Autors eine so enge Verbindung mit dem Kommunikationswert der Gedichte ein. Zwar kostet das den intimen Charakter der Poesie, sie gewinnt aber dafür an gesellschaftlicher Relevanz. Und das ist gerade dann wichtig, wenn es die gegenwärtige gesellschaftliche und politische Situation verlangt, nämlich „in einer Zeit, in der die Weltrisikogesellschaft Kurs aufgenommen hat, ihre Endprozesse zu beschleunigen. In einer Zeit, in der die Finanzkonstrukte in ein solches Wanken geraten sind, dass man den schiefen Turm der transnationalen Wirtschaften kippen sieht“, wie der Herausgeber im Vorwort schreibt. Inhaltlich unterteilt Tom Schulz alles außer Tiernahrung in vier programmatische Kapitel. Das erste Helikopterquartett mit Vertriebenen-Arie könnte ebenso heißen „das diffundierte Ich von Ländern erschlagen“. Die Gedichte lassen sich leiten von der geographischen Mobilität des modernen Menschen, und verarbeiten verschiedene Geschichtlichkeiten und deren Unvereinbarkeiten im vereinigten Pulverfass Europa. „jede nahaufnahme ist ein ethisches dilemma“ (René Hamann) – auch über Europas Grenzen hinaus in Krisengebieten des Iran, der Türkei und Chinas. Hinter der titelgebenden Vertriebenen-Arie versteckt sich Achim Wagners geniales Gedicht des feux de positions / positionslichter, das durch Montage, Stakkato und Perspektivenwechsel dem drängenden Chaos eines Terrorgetriebenen im Nahen Osten unmittelbar authentisch nachspürt. „Ruckediguh“ (Gerald Fiebig), und das steht fest, von den transnationalen Bedingungen will im gesamten Kapitel keine so recht passen. „Ruckediguh ... / Blut ist im Schuh“ (Tom Schulz). Auch im zweiten Kapitel Das Ende der Arbeit, das sich thematisch erstreckt von den Arbeitsbedingungen über die Verschuldung von Unternehmen bis zur Arbeitslosigkeit, und in Gebieten kumulativ Betroffener, in Neukölln, gipfelt. Das wird bedichtet von Tom Bresemann und Björn Kuhligk, bei dem die dortige Gewalt schon zum Spiel avanciert: „GEHEN SIE BITTE ÜBER PARKSTRASSE / UND ZIEHEN SIE EINE WAFFE“. Utopisch? Utopisch erscheinen da eher die neoliberalen Selbstreinigungskräfte des Marktes. „machtferne als leistung, armut als luxustherapie“, so sieht es in der Arbeitspolitik nach René Hamann aus. Gesichert ist jedenfalls, dass „ein unbehagen ohne namen [...] ungefragt / abends mit mir nach hause“ geht (Gerald Fiebig). Das dritte Kapitel Waten im Verdachtsgelände weist der Geschichte ihren Stellenwert zu. Die NS-Vergangenheit blieb den Dingen stets eingeschrieben. In den Gedichten zeichnet sie sich immer noch ab an Räumlichkeiten, an Häusern, an Straßen. Dem eher elegischen und empfindungsarmen Ton gegenüber der deutschen Geschichte entgegnet Thomas Kunst forsch sein Unbehagen: „Ich habe keinem Land je nachgeheult, / Und diesem hier schon gar nicht, zum Verrecken, / Da braucht man keine Heimat, höchstens Huren, / Chemie und Schnaps“. Zorn zeigt sich vor allem im letzten Kapitel Sprachwohnwagen, Richtung Nürburgring, das zwar thematisch etwas haltlos auseinander driftet, genau darin aber das Prinzip des häufigst hier anzutreffenden Themas liegt: die Unsicherheit der politischen Verhältnisse und des politischen Verhaltens. Das Gedicht wird von diffusen Einflüssen und Störungen gekratzt: der Technik, den Medien, dem Feminismus, dem Overkill des beschleunigten Lebens, dem Verfall der Kultur. Immer wieder keimt Wut auf bei der Gefahr des Verlusts der persönlichen Integrität. Aber keine Angst, „Wir wachsen nach. Wir sind / des Fieberns und Sedierens müde.“ (Marcel Beyer). Wo sich ansonsten alle Lyriker ausgewogen gegenüberstehen, wurde aus dem letzten Kapitel fast eine one-woman-show, aufgeführt von Monika Rinck. Die Kraft ihrer vier Gedichte fegt die anderen Dichter schier aus dem Buch. „ich bringe nichts, und ich versichere, / ich habe nichts bekommen [...] ich nenne dies: gewalt im gewand von schwäche, ab jetzt / will ich alles zurück und wenn einer in meinen augen / etwas andres sieht als verachtung, dann täuscht er sich.“ Auch wenn die thematische Einordnung der Gedichte in die vorgegebenen Kapitel nicht immer zutrifft, sie nicht immer tief in das Milieu ihres Themas eintauchen, und sie das politische Potential nicht immer voll ausschöpfen, so ist alles außer Tiernahrung in seiner Aufgabe, die neuen Tendenzen des politischen Gedichtes darzustellen, eine nicht wegzudenkende Sammlung. Sie zeigt, wie das heutige politische Gedicht funktioniert: Weder zielt es zwangsweise auf eine Wirkung hin, noch stiftet es zum politischen Handeln an; sondern heutige politische Gedichte zeichnen sich aus durch ein subjektorientiertes Sprechen, durch die individuellen Wahrnehmungen des Autors, der seine Beobachtungen ausrollt. Spätestens seitdem das Verb „zumwinkeln“ in den deutschen Sprachgebrauch gerutscht ist, dürfte klar sein, dass die Politik nicht mehr von Staaten, sondern von privaten Mächten und Institutionen bestimmt wird. So, wie die eigenen Interessen politisch agierender Personen mehr und mehr die Politik bestimmen, agieren auch die Lyriker intentional auf kleinerer Ebene, und verarbeiten zumeist unmittelbare Erfahrungen. In einer Kultur des Vor-, Durch- und Überspulens prallen im Gedicht diverse Eindrücke aufeinander. Der Crash von Lebensbedingungen wird vielfach formell durch Perspektivenwechsel, Montage und Sampling in seiner Geschwindigkeit und seinem Gedränge nachgebildet. Trotz der adäquaten Umsetzungen wünschte man sich, dass vielleicht ein bisschen mehr hinterfragt, als immer nur ausgestellt, dass vielleicht auch mal Lösungen angeboten werden – wenn es die Politik schon nicht tue. Mit Gedichten von: Marcel Beyer, Tom Bresemann, Ann Cotten, Daniel Falb, Karin Fellner, Gerald Fiebig, Franzobel, René Hamann, Guy Helminger, Simone Hirth, Adrian Kasnitz, Theresa Klesper, Björn Kuhligk, Thomas Kunst, Stan Lafleur, Norbert Lange, Monika Rinck, Marcus Roloff, Angela Sanmann, Stefan Schmitzer, Sabine Scho, Tom Schulz, Florian Voß, Achim Wagner und Ron Winkler.
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Walter Fabian
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