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Peter Kurzeck

Mein wildes Herz

Man lebt, solange man erzählt

Kritik
  Peter Kurzeck
Mein wildes Herz
supposé 2011
2 Audio-CDs, 120 Minuten
19,80 EUR


Wer Peter Kurzeck jemals erlebt oder ihn gesprochen hat, der weiß, dass sich alles von ihm Gesprochene in eine druckreife Erzählung auswächst. Erzählen scheint ihm die einzige Kommuni­kations­form zu sein. Über die Ent­stehung des furiosen Romans Ein Sommer, der bleibt, der ohne jegli­ches Manuskript eingelesen wurde und nur aus dem freien mündlichen Erzählen heraus in sechs Tagen entstand, sagt Peter Kurzeck, eigentlich sei es ihm nicht gut genug gewesen für ein eigen­ständiges Werk. Doch dann nahm Klaus Sander, Verleger von supposé, den Cut vor, zerlegte die Aufnahmen in kleine Erzähleinheiten und bestimmte die Reihen­folge. Erst da erkannte der beschei­dene Kurzeck die Qualität.

Seitdem setzt er das Prinzip der mündlichen Erzählung fort. Aber auch beim nun vorliegenden dritten Anlauf dachte er erst wieder, die Erzählung sei nicht fertig geworden und deswegen verpfuscht; und auch da lag es wieder an der Bearbeitung Klaus Sanders, die Kurzeck überzeugte, das Hörbuch zu machen. Dank ihm erfährt man einen weiteren Lebensausschnitt des Autobiographen, der mit Mein wildes Herz erzählt, wie er in Folge einer verschleppten Infektion in Frankreich einen Schlaganfall hatte und deswegen fast nicht zum Arzt gegangen wäre.

Beim Versuch, von sich selbst zu erzählen, kommt aber immer etwas Erfundenes hinzu und die Wirklichkeit muss erst zu einer literarischen Wirklichkeit gemacht werden. Der Autor und Erzähler liefert neben seinen Lebensfakten auch seine Vorstellungen mit. Und bunter als bei einem Peter Kurzeck könnten diese nicht sein. Allein die intensiven Beschreibungen des Wetters lassen den Zuhörer Kurzecks Provence sinnlich miterfahren; wie dort der Mistral weht, wie die Mimosenbäume blühen und riechen, wie die Olivenernte bereits im Januar beginnt. Da meint man mitten im Frühling zu stehen und versteht erst so richtig Kurzecks genieße­rische Freuden: „Du gehst im Süden, Du gehst zum Bei­spiel mit einem Körper­gefühl, das man in Deutsch­land eigentlich nicht kennt, nämlich […] dass man bei jeder Bewegung weiß, man ist auch zur eigenen Freude auf der Welt. Nicht nur zum Vergnügen, sondern wirklich zur eigenen Freude.“

Kurzeck braucht aber genauso das Gegenextrem, denn „ohne übergroßes Leid und ohne übergroße Freuden könnte ich es auf der Welt nicht aushalten“, und Freude und Leid gehen bei ihm Hand in Hand. Trotz dem fröhlichen Trödeln durch Nîmes und Avignon trägt Kurzeck seit 2000 seine Lebensbedrohung stets mit sich. Wohl wegen einer übergangenen Erkältung hat er einen Herz­klappen­fehler und zusätzlich wurde er innerhalb der letzten zehn Jahre an die 22 Mal an Blasenkrebs operiert. Worüber er in Mein wildes Herz anfänglich noch unbekümmert erzählt und gar nicht weiß, was er denn deswegen bei einem Arzt soll, wird für ihn immer dringlicher und erzeugt in der Erzählung ungemein Spannung – seine Ungeduld auf die Diagnose und die Opera­tion drückt ihm selber bis zum Zerreißen aufs Herz. Aber selbst da verliert Kurzeck nicht seinen poetischen Blick und fühlt sich während der Herzuntersuchung, wenn er den Kalkbelag seines Herzens im Blut­strom treiben sieht, aus seiner kindlichen Naivität heraus erinnert an eine Schiffsreise nach Dubrovnik mitten im Winter. Denn die Herzklappe sieht aus, als sei ein Schiffs­mast abgebrochen und die Fahne würde im Wind flattern.

Kurzeck braucht nicht nur die Freude und das Leid gemeinsam, sondern in ihrer Verschwis­terung entsteht manchmal ein Drittes, die Freude am Leid und das Leid an der Freude, die Erheiterung an armseligem Zeug und das Armselige der Heiterkeit. Das macht die Skurrilität und Groteske des Alltags bei Kurzeck aus – wenn er etwa seiner Tochter von der bröckelnden Decke erzählen will, durch die das Duschwasser des Bewohners über ihm dringt, und Kurzeck das lakonisch kommentiert: „auf tausend Kilometer Entfernung macht es auch nicht so`n Eindruck, wenn man sagt, da kommt Wasser durch die Decke.“ Oder wenn er erzählt, dass er trotz zwanzig verbrachter Lebensjahre in Frankreich kein Französisch spricht und sich deswegen auch überall verworren durchfranzen muss, weil er anstatt zu reden lieber mit den Augen wahrnimmt, und das geht besser, wenn man die Sprache erst gar nicht versteht.

So kann einen wenigstens nicht das Gefühl überkommen, dass einen Sätze, die man nur unüberlegt beiseite gesprochen hat, „heimsuchen und nicht mehr loslassen und quälen.“ Kurzeck erscheint in Mein wildes Herz fast, als möchte er seinen Gedanken wie die nicht gemachte Steuer­erklärung davonlaufen, aber immer wieder kehren einzelne Sätze und er spinnt sich selbst durch seine Erzählschleifen, die er einfach erzählen muss: „man weiß nicht, wie man weiterleben würde, wenn man einen bestimmten Absatz nicht beenden könnte. […] Und ich konnte diesen Absatz beenden, war also berechtigt weiterzuleben.“ Kurzeck erzählt Mein wildes Herz um sein Leben. Und das gern.

 

Walter Fabian Schmid    27.04.2011   

 

 
Walter Fabian Schmid
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