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Lutz Seilerim felderlateinDas Rauschen der Bäume, die Sprache Kritik
Alle Gedichte seit 1939 sind Gedichte von Nachgeborenen. Jedenfalls solange sich Dichter angesprochen fühlen von Brechts An die Nachgeborenen und der Frage: „Was sind das für Zeiten, wo/ Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist/ Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“ Brecht trat damit eine reges Gespräch über Bäume los und seine Frage wurde im Schweigediskurs über die Geschichtsverbrechen zu einem unumgänglichen Diktum. Die dichterischen Reaktionen reichten von Günter Eichs lakonischer Verweigerung – „Die Kastanien blühen./ Ich nehme es zur Kenntnis,/ äußere mich aber nicht dazu“ – über die dialektische Reflexion eines Walter Helmuth Fritz – „Inzwischen ist es fast/ zu einem Verbrechen geworden,/ nicht über Bäume zu sprechen“ – bis zur provokanten Kontrafaktur Paul Celans, der Brecht auf den Kopf stellt und ihn vor selbigen stößt: „Was sind das für Zeiten,/ wo ein Gespräch/ beinah ein Verbrechen ist,/ weil es soviel Gesagtes/ mit einschließt?“ Seiler steht im felderlatein genau in der Mitte von Brecht und Celan. Durch Seilers Dichtung spricht die Geschichte hindurch und die Gedichte sind ein Gespräch der Brecht-Bäume selbst, denn „was// wir sehen […] weitab in den bäumen. es ist/ ihr eigenes gespräch“. Geschichte graviert sich aber nicht nur in Bäume ein, sondern auch in die Landschaft drumrum. Deswegen ist das Durchforsten, wie Seiler es vornimmt, auch ein Durchforsten eines geschichtlichen Archivs und er stößt in der Natur immer auf Verschüttetes und Vergrabenes. So wie Celans „Gras, auseinandergeschrieben“ bricht sich bei Seiler die Vergangenheit an den Wunden der Landschaft Bahn. Seine Gedichte stehen im Zeichen der Rückeroberung von Versunkenem, auch privat Versunkenem, weswegen er die Nichtorte aufsucht. Orte wie das enteignete Grundstück seines Vaters oder das bereits zu einem Topos in Seilers Gedichten gewordene Culmitzsch; jener Ort, in dem Seiler aufwuchs und der unter dem fatalen DDR-Uranabbau dem Boden gleich gemacht wurde. Mit so viel Geschichte und persönlicher Erfahrung in den Knochen bleibt man ziemlich allein zurück und Seilers lyrisches Ich identifiziert sich mit Hölderlins Eichbäumen, wenn es im Titelgedicht bekennt: „es ist ein baum/ & wo ein baum so frei steht/ muß er sprechen“. Und sprechen muss dieses Ich in seiner ganz originären Weise, mit einer singulären Sprechart wie sie derzeit nur Seiler in Naturgedichten spricht. Nicht umsonst beruft er sich in seiner Naturmagik auf die Selloi, die Priester, die bei Homer aus dem Rauschen der Bäume weissagen. Und das Rauschen der Bäume, ihre Sprache, summt und riecht für das lyrische Ich, und ist durch und durch sinnlich erfahrbar. Dem Dichter geht es hauptsächlich darum, eine auratische Stimmung der Dinge zu vermitteln und aus dieser heraus zu sprechen. Er will ein nebulöses „fernsprechrauschen“ statt Aussagen in HD-Qualität. Das Auratische und Mystische macht die Gedichte zu Hallozinogene. Es macht sie zu einem Narkotikum, wo der Geschichtspessimismus wunden reißt. Nur leider beseitigen Seilers metonymische Metamorphosen und Dingdiffusionen den thematischen Kern vieler Gedichte. Oft bleibt nichts, woran man sich festhalten kann, und das macht die Gedichte zu einer schönen Aussage ohne Aussage; denn wer über Dinge spricht, verhilft ihnen noch lange nicht zur Sprache, sondern lullt oft nur in ihre Aura ein. Diese Poetisierung belebt zwar ein konservatives Lyrikverständnis; aber so traditionell die Dichtung auch ist, so schafft Seiler es doch, das Sprachmaterial von poetischen Schlacken und den konventionellen Rückständen zu befreien.
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Walter Fabian Schmid
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