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Lutz Seiler

im felderlatein

Das Rauschen der Bäume, die Sprache

Kritik
  Lutz Seiler
im felderlatein
Gedichte
Suhrkamp 2010
14,90 EUR


Alle Gedichte seit 1939 sind Gedichte von Nachgeborenen. Jedenfalls solange sich Dichter angesprochen fühlen von Brechts An die Nachgeborenen und der Frage: „Was sind das für Zeiten, wo/ Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist/ Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“ Brecht trat damit eine reges Gespräch über Bäume los und seine Frage wurde im Schweige­diskurs über die Geschichts­verbrechen zu einem unum­gäng­lichen Diktum. Die dichterischen Reaktionen reichten von Günter Eichs lakonischer Verwei­gerung – „Die Kastanien blühen./ Ich nehme es zur Kenntnis,/ äußere mich aber nicht dazu“ – über die dialek­tische Reflexion eines Walter Helmuth Fritz – „Inzwischen ist es fast/ zu einem Verbrechen geworden,/ nicht über Bäume zu sprechen“ – bis zur provo­kanten Kontra­faktur Paul Celans, der Brecht auf den Kopf stellt und ihn vor selbigen stößt: „Was sind das für Zeiten,/ wo ein Gespräch/ beinah ein Verbrechen ist,/ weil es soviel Gesagtes/ mit einschließt?“

Seiler steht im felderlatein genau in der Mitte von Brecht und Celan. Durch Seilers Dichtung spricht die Geschichte hindurch und die Gedichte sind ein Gespräch der Brecht-Bäume selbst, denn „was// wir sehen […] weitab in den bäumen. es ist/ ihr eigenes gespräch“. Geschichte graviert sich aber nicht nur in Bäume ein, sondern auch in die Landschaft drumrum. Des­wegen ist das Durchforsten, wie Seiler es vornimmt, auch ein Durchforsten eines geschicht­lichen Archivs und er stößt in der Natur immer auf Verschüttetes und Ver­grabenes. So wie Celans „Gras, aus­einander­geschrie­ben“ bricht sich bei Seiler die Vergan­genheit an den Wunden der Land­schaft Bahn. Seine Gedichte stehen im Zeichen der Rück­eroberung von Ver­sunke­nem, auch privat Ver­sunkenem, weswegen er die Nicht­orte aufsucht. Orte wie das enteig­nete Grund­stück seines Vaters oder das bereits zu einem Topos in Seilers Gedichten gewordene Culmitzsch; jener Ort, in dem Seiler aufwuchs und der unter dem fatalen DDR-Uran­abbau dem Boden gleich gemacht wurde.

Mit so viel Geschichte und persönlicher Erfah­rung in den Knochen bleibt man ziemlich allein zurück und Seilers lyrisches Ich identi­fiziert sich mit Hölderlins Eichbäumen, wenn es im Titelgedicht bekennt: „es ist ein baum/ & wo ein baum so frei steht/ muß er sprechen“. Und sprechen muss dieses Ich in seiner ganz originären Weise, mit einer singu­lären Sprechart wie sie derzeit nur Seiler in Naturgedichten spricht. Nicht umsonst beruft er sich in seiner Natur­magik auf die Selloi, die Priester, die bei Homer aus dem Rauschen der Bäume weissagen. Und das Rauschen der Bäume, ihre Sprache, summt und riecht für das lyrische Ich, und ist durch und durch sinnlich erfahrbar. Dem Dichter geht es haupt­sächlich darum, eine auratische Stimmung der Dinge zu vermitteln und aus dieser heraus zu sprechen. Er will ein nebulöses „fern­sprech­rau­schen“ statt Aussagen in HD-Qualität.

Das Auratische und Mystische macht die Gedichte zu Hallo­zinogene. Es macht sie zu einem Narko­tikum, wo der Ge­schichts­pes­simis­mus wunden reißt. Nur leider besei­tigen Seilers meto­nymische Meta­morpho­sen und Ding­diffu­sionen den thema­tischen Kern vieler Gedichte. Oft bleibt nichts, woran man sich fest­halten kann, und das macht die Gedichte zu einer schönen Aus­sage ohne Aus­sage; denn wer über Dinge spricht, verhilft ihnen noch lange nicht zur Sprache, sondern lullt oft nur in ihre Aura ein. Diese Poeti­sierung belebt zwar ein kon­ser­vatives Lyrik­ver­ständ­nis; aber so tradi­tionell die Dichtung auch ist, so schafft Seiler es doch, das Sprach­material von poeti­schen Schlacken und den konven­tionellen Rückständen zu befreien.

 

Walter Fabian Schmid    27.12.2010   

 

 
Walter Fabian Schmid
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