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Lukas Kollmer

Anomia

Burroughs, W.S.: Frankenstein. Wien: Luftschacht 1984

Lukas Kollmer | Anomia
Lukas Kollmer
Anomia
Luftschacht 2008
„Ich stehe als Crash. Ich stehe als der letzte Philosoph des Niedergangs. Ich stehe als Belachter, Beäugter, Beseltsamter; als Bedachter, Besoffener, Benutzter, Be­schwächter, Benichtster, als Beliebter, als Beneideter, als Behasster, als Belorener, als Bestochener, als Betrogener, als Belufteter, Begriffener, Belusteter, Betasteter, Beklan­gener, Begessener, Betretener, Be­herzter, Besklavter, Bedingter, Besuchter, Be­carnivorter, Bealles­undsoweiterter, besan­det und beblutet und bestraft und bedient und begabt und beseucht und belitten und bedarft und bekünftet und berufen und besichtet und bedammt und befreit und begeudet und beschlossen und belastet und befeuchtet und betroffen und befickt und befunzelt und bestritten und bezweifelt und benachtet und beläutert und belesen und belegt und besiegelt. Aber ich stehe. Ich stehe und kann nichts dagegenhalten. Meine Füße kalt wie Schnecken­fleisch, Arschlöcher verteilt über meinen ganzen Körper. Ich muss mich nicht waschen. Ich muss nicht rein sein. Aus jeder Pore scheiße ich das Gift der Welt hervor, den einzigen unbegrenzten Rohstoff. Shake it Baby.“

Was soll das? Ja, was soll das eigentlich? Stammt das etwa von einem schizophrenen, alkoholsüchtigen Junkie mit Paranoia? Richtig. Und dann ist er auch noch Schriftsteller, und führt eine verkorkste Beziehung zu einer Schauspielerin in Therapie; da ist der Realitätsboden schon weggezogen, bevor man überhaupt auf die Beine kommt. Wer so viel Unbestimmtheit raus haut, der hat nichts mehr zu verlieren.

Wo Anomie eigentlich die Diskrepanz zwischen kulturellen Zielen und institu­tionali­sierten Mitteln meint, wo Orientierungs­losigkeit, soziale Bindungs­losigkeit und normativer Geltungs­verlust entsteht; wo die Anomietheorie eigentlich eine konkrete Handlungsanleitungbegründung für abweichendes Verhalten liefert, verschiebt Kollmer den Begriff in eine funktionale Gesell­schafts­theorie: die politische Maschine. In einem faschistischen System, das jegliches selbstgesteuerte Leben ausschaltet und durch „Trans­substate“ ersetzt – ja, die chrtistliche Trans­formation ist zu weit ausgeholt –, wird der Mensch zur Maschine. Wer für den Kältestrom nicht funktioniert, wird ausgeschaltet, der implantierte Chip storniert. „Euer Geist ist nicht mehr als euer Körper: Eine Funktion.“

Tja, Pech für den Assi-Protagonisten. Da hilft nur ein Fetzen im Wind zu sein. Als dämonischer Gott wird er in den Filmen der Zersetzungsfirma Croqué Ltd. auftreten, und wird so zum Helfershelfer des Demiurgen, der den neuen Menschen aus Materie knetet und die Welt böse neu gebiert. So wie Croqué sich seine Gesellschaft einrichtet, hat der eindeutig zu viele Splatter geschaut. Oder schreibt Kollmer an sich einen literarischen Splatter? Zumindest kredenzt er reichlich schwere Metaphern. Da gibts lecker „leergefressene Augenhöhlen“, „hartgefrorenes Blut“, eitriges Brot, denn „eitriges Brot macht weise“, und massig Ungeziefer, gar Herzblut saufende Gelsen. Ernst Jünger himself stiege neidisch Blässe ins Gesicht; Bataille schlüge Salti.

Wann allerdings schlägt die Ästhetik des Hässlichen um in eine Lust des Hässlichen? Kann Schrecken überhaupt sexy sein? Auf alle Fälle nicht für die Figuren. Hier funktioniert kein Kältepathos; hier wird Angst nicht zu Lust; hier herrscht keine Sexualität des Schreckens, hier herrscht eine schreckliche Sexualität: „Ihr Geschlecht verspritzt seinen Saft über die Wände“. So schauts aus in Anomie: erst Miss Universe durch den Fleischwolf zwirbeln, und sich dann auf das zarte Brät so richtig einen von der Palme wedeln. Was sonst wären Systemleichen, als Leichen des Systems? Und das System laicht ganz gut. Aus Testzwecken werden ganze Dörfer ausgerottet, um den Fleischmensch zu vernichten, um eigene Transsubstate zu züchten.

Anomia ist ein bunter Blumenladen des Bösen. Aus dem Nährboden Gewalt treiben ganz unterschiedliche Textblüten: Medizinisches Versuchsprotokoll, Prophetie, philosophische Essayistik, ideologisches Manifest, Rhetorische Rede. Und dazwischen ein Erzählfluss, der die Früchte des Zorns immer weiter reifen lässt. Doch zu schwer wiegt die klaustrophobische Enge unter dem Gestank der Giftpflanzen, als dass die Erzählung wirklich fließe. Da wächst wenig konsistent und geradlinig. Aber stimmt. Der Weltgärtner hat seinen Job längst an den Nagel gehängt. Hier herrscht Wildwuchs.

Und was soll das jetzt? Will Kollmer die Theodizee, den Nihilismus und die Willensdetermination neu befeuern? Eher weniger. Es ist schlicht der blanke Lebenserhaltungstrieb, der Egoismus, es ist das unbedingte Überleben-Wollen, das Überleben-Müssen, was den vernich­tenden Moloch stets weiter füttert. „Man muss sehen, dass sich hinter den aller­meisten Prozessen gegenwärtigen gesellschaftlichen Seins unmittelbar das Quälen, Morden, im Mindesten aber das radikale Unterdrücken (noch!) verbirgt.“ Ach, was solls: „Seien Sie Faschist und bleiben Sie gesund, das ist hier unser Credo.“
Lukas Kollmer, geboren 1976, lebt und arbeitet in Wien. 2003 erschien der Roman Nihil, 2005 die Erzählung Schlächtervergessen (beide bei Lufschacht).

Walter Fabian Schmid   25.03.2009

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