Das vergangene Jahrzehnt war wahrlich eine gute Zeit für Dichtung. Die Festivalisierung der Literatur hat die Lyrik als Vortragskunst wieder entdeckt, und die Öffentlichkeit schien hungrig nach der Institutionalisierung junger Dichter. Dass die sich ihre Aufmerksamkeit auch selbst geschaffen haben, das ist eine entscheidende Charakteristik des vergangenen Jahrzehnts. Mit dem Boom um Anthologien wie Lyrik von jetzt, dem Bohei um kookbooks und dem frechen Revival der Literaturzeitschrift im Stile von BELLAtriste hat sich eine ganze Generation selbst gehypt und ist gehypt worden. Selten hat man innerhalb der engen Vernetzung der Dichter, wie der Herausgeber Michael Braun in seinem Nachwort feststellt, „so sachkundig und offensiv über Lyrik gestritten“ wie im neuen Zeitalter. Doch oft genug war die interne Diskussionsfreude inzestuös und drang nicht nach außen, weil sie enigmatisch war oder auf interne Profilierung zielte. Wer allerdings glaubt, man könne mit einem geschlossenen Auftreten der Dichter auch eine geschlossene Dichtung dingfest machen, der irrt, denn was epochentypisch vorherrscht, ist eine fragmentierte Kohärenz – sowohl unterhalb der Lyriker als auch auch innerhalb des einzelnen Gedichts. Am deutlichsten wird die Brüchigkeit bei der 2005 stillgelegten, aber noch lange nicht ausgeschöpften Innovationsquelle Thomas Kling. Michael Braun macht eine derartige „existentielle Bodenlosigkeit des lyrischen Sprechens“ zu einem zentralen Merkmal des letzten Jahrzehnts. Deswegen benennen die Herausgeber ihre Anthologie auch nach Versen des Troubadours Wilhelm von Aquitanien: „Ich mach ein Lied aus reinem Nichts,/ Von mir nicht und von keinem spricht's.“ So hat das heutige Gedicht in seiner Genügsamkeit nur sich selbst zum Grund und gebiert sich aus sich selbst. Andererseits lässt die „existentielle Bodenlosigkeit“ das Gedicht nach einem beständigen Fundament suchen, das es in tradierten und strengen Formen findet. Jan Wagner und Franz Joseph Czernin rückerobern das Sonett, Daniela Danz die Ode und Ulrike Draesner die Terzine und Sestine; und so steht neben einer Dichtung des Vor-, Durch- und Überspulens, die Disparates aufeinanderprallen lässt, zeitgleich die Dichtung eines Steffen Popp oder Raoul Schrott, die das Erhabene revitalisiert. Dem Fehlen beherrschender Schreibweisen geben die Herausgeber von Lied aus reinem Nichts zurecht nach und stellen in ihrer Bestandsaufnahme des vergangenen Jahrzehnts lieber die Vielfalt des lyrischen Sprechens aus. Mit ihrer kompromisslos-qualitativen Sammlung legen Michael Braun und Hans Thill nicht nur die kenntnisreichste Auslese der Nullerjahre vor, sondern auch eine Evolutionsgeschichte der Dichtung. Die Zielrichtung der Kapitel stellt eine Dramatik her, die den Lebenslauf einer Dichtung suggeriert: Wo im ersten Kapitel das Gedicht im Sinne eines sensorischen Apparates die Wahrnehmung erst erlernt, so erkundet es in den nachfolgenden Kapiteln die Welt; es wird sozialisiert in der Politik und der Liebe, bevor es als poetologisches Gedicht über sich selbst nachdenkt, es schließlich mit sich selbst abrechnet und über den Tod meditiert, bevor es seinen verstorbenen Verfassern in Form von Stelen noch einmal die Ehre erweist. Was die Herausgeber mit dieser prozessualen Entwicklung schaffen, wirkt nicht nur erzählerisch, sondern wirkt, als hätten alle Dichter des vergangenen Jahrzehnts an einem einzigen, gemeinsamen Text geflochten, nämlich diesem einen Lied aus reinem Nichts. Und dieses „Lied“ offenbart die neuen Tendenzen der Lyrik, die vor allem traditionelle Genres betreffen: das Naturgedicht, das politische Gedicht und das Liebesgedicht. Ein Auslaufmodell des Naturgedichts ist die kontemplative Betrachtung des Subjekts als passiver Bewunderer. Die omnipräsente Natur, mit der das Subjekt interagiert, bleibt unfassbar und das Ich bleibt ihr ausgeliefert, bis hin zu Stefan Turowskis Verfängnis „Ich dachte, Natur, da will ich hin […] ich dachte, Natur,/ wie komme ich da wieder heraus.“ Entflohen ist das Gedicht in seiner politischen Façon jedenfalls allgemeinen Ideologien, wie sie sich in der Hochphase des politischen Gedichts, in den 60er und 70er Jahren, eingenistet hatten. Heutige politische Gedichte bauen auch nicht auf den übriggebliebenen Resten und Ruinen der Ideologien, sondern zeichnen sich aus durch ein subjektorientiertes Sprechen, durch die individuellen Wahrnehmungen des Autors, der unmittelbare Erfahrungen und spezielle Ereignisse wie den 11. September verarbeitet. Aber weder zielt das politische Gedicht auf eine Wirkung hin, noch stiftet es zum politischen Handeln an. Zwar könnte man auch der momentanen Politik eine Leidenschaftslosigkeit von unverbindlichen Liebesbeziehungen attestieren, in der Lyrik bleibt das allerdings eine Charakteristik des Liebesgedichts. Seine Lakonie endet bezeichnender Weise in Gerhard Falkners Ernüchterung über das weibliche Liebesobjekt: „Sie ist weiter nichts als schön und das ist alles.“ Der direkte Weg führt in fast keinem Gedicht der Nullerjahre zum Ziel. Dem Text bleibt eine Suchbewegung eingeschrieben; eine Suche nach thematischem Material oder nach Wortmaterial. Das Gedicht des letzten Jahrzehnts kennt keine eindeutig ortbare Herkunft und kein Ziel. Es tänzelt an einem dritten Ort und oszilliert unfassbar im Dazwischen, was selbst für den Dichter spannend ist: herauszutüfteln, wo einen das Gedicht eigentlich hinführt, wo es hin will mit einem. In seiner Unentschlossenheit ist es jedoch stets begleitet von einem reflexiven Moment. Nichts wird naiv oder unüberlegt aus der Tradition übernommen; und die Gegenwartsdichtung speist sich substantiell aus der Tradition. Ob aus kritischen oder ironischen Perspektiven, ob als technisch angeschrägtes Naturgedicht oder als Hölderlin-Fragmentation, auch auf die Lyrikgeschichte blickt das derzeitige Gedicht mit seinen tausenderlei Augen.
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Walter Fabian
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