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Urteile sind nichts, was vom Himmel fällt
Gespräch mit Martin Hielscher über den Ingeborg-Bachmann-Preis
Martin Hielscher, geboren 1957, studierte Literaturwissenschaft und promovierte über Wolfgang Koeppen. Er war Lektor bei Luchterhand und Kiepenheuer & Witsch und ist seit 2001 Programmleiter für Belletristik bei C.H. Beck. Auch als Über­setzer (Richard Ford, William Gaddis, Lorrie Moore) und Biograph (Wolfgang Koeppen, Uwe Timm) trat er hervor. Nach Gast­professuren an der Washington University und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig ist Martin Hielscher nun Honorar­professor an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.
Walter Fabian Schmid: Lieber Herr Hielscher, Sie waren dieses Jahr zum 19. Mal in Klagenfurt. Welchen Eindruck haben die 32. Tage der deutsch­sprachigen Literatur (TDDL) bei Ihnen hinterlassen?

Martin Hielscher: Sie haben einen ähnlichen Eindruck bei mir hinterlassen, wie man das auch in verschiedenen Feuilletons lesen konnte. Zum einen fand ich die Qualität der Texte nicht so überwältigend, da es keinen Text gab, bei dem man sagen könnte, dass er die Literatur neu erfinden würde, zum anderen hat die zeitliche Verkürzung dem Wettbewerb eher geschadet.

W. F. Schmid: Inwiefern hat die Verkürzung konkret geschadet?

M. Hielscher: Vor allen Dingen hat es die Intensität genommen. Zwar sollte man annehmen, dass die Raffung eine Intensität bewirken könnte, tatsächlich hat aber eher die Überforderung zugenommen. Intensität stellt sich erst durch eine gewisse Dauer des Diskutierens ein und lebt davon, dass diese Ernsthaftigkeit erst nach einer gewissen Zeit an Präsenz gewinnen kann. Durch die Straffung ist man eher überlastet, weil man in dieser Gedrängtheit diese Menge nicht so gut verarbeiten kann. Drastischer ist allerdings, dass durch die veränderte Moderation die Jurydiskussion und deren Dynamik, die an Klagenfurt fast noch spannender ist als die Texte, ausgebremst wurde. Das Besondere an Klagenfurt ist ja, dass die Juroren auf Augenhöhe mit den Texten immer wieder über Sinn und Zweck von Literatur diskutieren. Sogar ganz allgemein: was soll eigentlich Literatur? Für alle, die sich mit Literatur professionell auseinandersetzen oder sich privat damit beschäftigen, ist das eine ganz wichtige Frage. Das Einzigartige an Klagenfurt ist, dass das außerhalb einer rein akademischen Welt oder Verlagswelt vor so einem großen Publikum mit aller Ernsthaftigkeit besprochen wird. Insofern ist es eine ganz ungewöhnliche Veranstaltung und in dieser Form einmalig auf der ganzen Welt. Die besondere Intensität und Spannung durch die hohe Qualität der einzelnen Jurydiskussionen in der Vergangenheit ist verschwunden. Man hat aber auch dem eher peinlich wirkenden Moderator Dieter Moor zu viel Raum gegeben und er hat die Spannung zerstört, indem er die spontane Reaktion der Juroren unterbunden hat. Er hat eher eine Talkshow daraus gemacht, was dem Wettbewerb nicht gut tut.

W. F. Schmid: Kann man die TDDL in dieser Form noch als Betriebsausflug bezeichnen? Bleibt überhaupt noch Zeit, mit Kollegen der Literatur­vermittlung ausgiebig in Kontakt zu treten?

M. Hielscher: Es gibt zwar noch Zeit dafür, aber auch die ist weniger geworden. Der Charme von Klagenfurt war eben genau dieser andere Aspekt, dass man hinter den Kulissen und neben dem eigentlichen Wettbewerb einfach mit Kollegen, Autoren und Kritikern informell reden und sich kennen lernen konnte. Früher saß man zum Teil den ganzen Abend lang geschlossen beisammen und redete mit Leuten, mit denen man sonst nie oder nur sehr selten in Kontakt kommt. Das ist etwas, was in der Tat latent verloren geht. Klagenfurt wird ja auch zum Teil als Jobbörse benutzt. Nämlich insofern, als sich ein Autor oder Lektor einen neuen Verlag sucht und umgekehrt. Es wird ganz viel informell verhandelt. Der Grund dafür ist, dass Klagenfurt eben ein Ort außerhalb der Messewelt und des damit verbundenen Zeitdrucks ist. Vor allem durch das Ambiente in Klagenfurt entsteht eine Leichtigkeit, in der man sich eher als Person öffnet. Festzustellen ist, dass bereits dieses Jahr weniger Besucher aus dem Betrieb anwesend waren. Klagenfurt ist ja seit Jahren umstritten gewesen, weil bei den letzten Malen viele über das Niveau der Texte enttäuscht waren. Wenn es jetzt aber noch unerheblicher wird, weil auch noch der informelle Teil schrumpft, dann fragen sich in der Tat die Leute, warum sie da überhaupt noch hinfahren sollen.

W. F. Schmid: Konnte man dieses Jahr den typischen Bachmann-Text – Stichwort »eigenes Genre« – ausfindig machen oder ist das in den letzten Jahren zurückgegangen?

M. Hielscher: Man kann sicherlich sagen, dass sich seit Jahren ein gewisser Wandel in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vollzieht: von eher experimentellen Texten hin zu »straighteren« Texten. Damit meine ich Texte, die einen höheren Unterhaltungswert haben und bei denen die Autoren eine professionellere Performance zeigen. Der klassische Klagenfurt-Text war ein Text, der hochgradig artistisch aufgeladen war. Nicht zuletzt, um der Jury genügend Stoff zu bieten, mit dem sie sich beschäftigen kann – Fleisch, woran sie nagen kann. Das hat sich seit vielen Jahren verschoben. Die deutsche Literatur ist generell unterhaltsamer und erzählerischer geworden. Dafür haben viele Lektoren – auch ich persön­lich – etliche Jahre gekämpft. Andererseits ist die Literatur jetzt vielleicht schon wieder zu unterhaltsam und zu eingängig geworden. Das, was man als klassischen Klagenfurt-Text immer gewohnt war, war in diesem Jahr höchstens noch zur Hälfte vorhanden. Keiner dieser Texte hat allerdings einen der Preise gewonnen, was ganz erstaunlich war.

W. F. Schmid: Welcher war Ihrer persönlichen Meinung nach der beste Text?
M. Hielscher: Ehrlich gesagt habe ich große Schwierigkeiten darauf zu antworten. Es gab dieses Jahr keinen Text, bei dem man sofort dachte: »Mensch, das ist ja der Hammer. Das muss ich jetzt sofort dreimal wieder lesen.« Natürlich waren trotzdem Texte dabei, die mich beeindruckt haben wie z.B. der von Patrick Findeis oder Clemens Setz. Auch bei Angelika Reitzer und Heike Geißler konnte man viel entdecken. Aber keiner von denen hätte mich jetzt ganz uneingeschränkt zu Begeisterungshymnen animiert.
W. F. Schmid: Der Bachmann-Preis gilt nicht unbedingt als Preis, der sich auf die Verkaufszahlen auswirkt. Wem würden sie die meisten Verkaufszahlen attestieren, ungeachtet dessen, ob derjenige ein Preisträger ist oder nicht?

M. Hielscher: Nach dem Auftritt von Tilman Rammstedt muss man das wohl ihm attestieren. Er hat ja vor allem wegen seines Unterhaltungswerts, der Performance und nicht zuletzt des Inhalts wegen drei Preise gewonnen. Jetzt folgt gleich der Roman, und in der Öffentlichkeit sind die Weichen für diese Art von Text gestellt. Die Leute wollen sich amüsieren und gut unterhalten werden. Genau das bietet Rammstedt. Er hat auch mitunter recht mächtige Anhänger in der Literaturszene. Man muss damit rechnen, dass die Medien auf den Erfolg positiv reagieren werden. Deswegen kann ich mir schon vorstellen, dass er auch den größten Erfolg haben wird.

Außerdem muss man Alina Bronsky beachten. Zwar hatte sie jetzt einen eher durchwachsenen Auftritt, aber immerhin kam sie unter die letzten sieben Autoren, zwischen denen sich die Preise entscheiden. Bronsky ist eine Autorin, auf die Kiepenheuer & Witsch sehr setzt, was nicht unberücksichtigt bleiben darf, weil dieser Verlag sehr gut medial vernetzt ist und sehr gute Kontakte hat. Ihr Buch wird wohl wahnsinnig gepuscht werden und ihr Text funktioniert auch so ähnlich wie Rammstedts. Das ist sehr unterhaltsam, sehr witzig, und nichts, was einen großartig herausfordert in Bezug auf die Ästhetik oder die Geschichte. Das sind eher Dinge, die man schon ein Stück weit kennt. Aber durchaus Dinge, die einen gut unterhalten können, und beide Autoren präsentieren sich sehr gut. Von daher passen sie optimal in die Medienlandschaft und bedienen sie dementsprechend. Ich könnte mir vorstellen, dass das auch belohnt wird. Es wird die Literatur nicht weiter bringen, aber in gewisser Weise ist es etwas, was sich ein Teil des Literaturbetriebes immer von Autoren gewünscht hat. Es bleibt natürlich die Frage wie viel Substanz das im Endeffekt hat und wie lange sich das hält.

W. F. Schmid: Ich möchte auf die Jury zu sprechen kommen. Ich persönlich war an einigen Stellen ziemlich genervt von der Oberflächlichkeit und nicht immer aufblitzenden Kompetenz. Ich fand es mitunter gar lächerlich, wenn ich an Alain Claude Sulzer denke. Wie ging es Ihnen?

M. Hielscher: Herr Sulzer, der ja von dem Moderator auch mit Herrn Schulzer begrüßt wurde, hat für mich leider vom allerersten Wort an einen unglaublich schwachen Eindruck gemacht. Das ist eine der schwächsten Vorstellungen, die ich in meiner fast jahrzehntelangen Klagenfurt-Geschichte erlebt habe. Ich glaube nicht, dass er dort einen zweiten Auftritt haben wird. Ich finde das sehr bedauerlich, weil dieses Klagenfurt-Format mehr eine Bühne für die Juroren, als für die Autoren ist. Die Autoren treten nur einmal auf, aber die Juroren permanent. Meiner Meinung nach ist mancher Juror, der dort in Erscheinung getreten ist, fast berühmter geworden als durch irgendetwas anderes, das er gemacht hätte. Herr Schulzer hat das – so muss man es deutlich sagen – vergeigt.

Leider ist durch die etwas dämliche Moderation von Dieter Moor genau das Spannende, was die Jury hätte leisten können, ausgebremst worden. Es blieb bei vereinzelten klugen Statements von Burkhard Spinnen, Ursula März oder Klaus Nüchtern. Nüchtern hat eine sehr originelle Art, punkige Statements abzuliefern, und März und Spinnen sind einfach hochintelligent und zudem sehr gute Rhetoriker. Herr Heiz ist immer ein bisschen neben der Kapp. Oft ist das, was er sagt, hochbrillant, oft versteht man ihn aber auch nicht, weil man sein Referenzsystem nicht kennt. Er holt ja zu langen Erklärungen aus, die mit großer Leidenschaft vorgetragen werden, man weiß aber oft nicht, was er eigentlich meint. Zu Frau Striegl ist noch zu sagen, dass sie eine sehr gestriegelte Germanistin ist, die mal ganz tolle Ideen hat und mal ganz komische Sachen sagt. Bei ihr weiß man auch nie so ganz genau, wie sie das eigentlich gemeint hat, weil sie – wie das für die Germanisten dort leider gilt – sich in ihren Urteilen zu sehr zurückhält. Man muss bei ihr immer nachfragen, ob ihr Statement positiv oder negativ gemeint war.

Bei Spinnen fand ich vor allem schade, dass er immer abgewürgt wurde vom Moderator. Spinnen kann sehr brillant sein – vor allem im gegenseitigen Schlagabtausch. Dazu ist es aber einfach nicht gekommen.

W. F. Schmid: Wie viel Gruppe '47 steckt eigentlich noch in dieser heutigen Jury?

M. Hielscher: Das zeigt sich wirklich nur noch in der formalen Anlage, nämlich dass es eine Livekritik – wenn auch keine Spontankritik mehr – ist. Auch dass der Autor im Prinzip nichts sagen soll, sondern nur da sitzt und zuhören muss, ist eine Idee, die von der Gruppe '47 stammt. Dennoch wurde damals viel mehr debattiert. Genauso wie Klagenfurt war die Gruppe '47 eine Kaderschmiede der Kritiker. Auch da haben die Autoren dazu gedient, damit die Kritiker berühmt werden konnten. Nicht zuletzt war die Gruppe '47 auch schon ein Medienereignis, das zuerst über das Radio und dann über das Fernsehen erfasst wurde. Hier haben alle heute bekannten, alten Großkritiker von Marcel Reich-Ranicki bis Joachim Kaiser ihre Karrieren gestartet. Das lebt in Klagenfurt weiter, weil es eben auch Sprungbrett für Kritiker ist.

W. F. Schmid: Fehlt es vielleicht an harscher, exorbitanter Kritik? Brauchen wir wieder eine Kritiker-Instanz wie Marcel Reich-Ranicki?

M. Hielscher: Schwer zu sagen, weil man ja eigentlich unter Reich-Ranicki auch gelitten hat. In so einer Exorbitanz der Kritik steckt immer ein autoritativer Gestus bis hin zu einem autoritären Charakter. Mitunter auch ein Vernichtungsfuror. Der Autor von heute sagt: »Das wünsche ich mir nicht unbedingt zurück. So möchte ich als Autor nicht behandelt werden. Ich möchte nicht auseinander genommen werden und möchte nicht explizit zu hören bekommen, dass meine Literatur gar keine Literatur ist und ich hier nichts verloren habe.« Dies alles wurde in der Vergangenheit in Klagenfurt gesagt. Insofern ist die Veränderung, die auch dadurch eingetreten ist, dass die Texte den Juroren vorher bekannt sind und sie sich auch zu ihren Autoren bekennen müssen, begrüßenswert. Dies hat zu einer gewissen Humanisierung der ganzen Angelegenheit geführt. Früher konnten sich Juroren auch einfach verdrücken. Wenn sie merkten, dass ihr Autor nicht gut ankommt, dann haben sie so getan, als hätten sie ihn noch nie gesehen. Das hat für Autoren teilweise zu dramatischen Zuständen geführt. Die Autoren haben sich da zu Recht verraten und verkauft gefühlt. Heute werden die Texte vorher verteilt und die Juroren müssen sich zu dem von ihnen eingeladenen Autoren bekennen und sie müssen den auch verteidigen. An dem Verhalten, ob ein Juror seinen Autor verteidigt oder nicht, sieht man auch, ob der Juror Charakter hat und insofern lernt man die Leute ganz gut kennen.

Es ist sicher gut, wenn die Diskussion Biss hat, wenn es Kontroversen gibt und man merkt, dass Kritiker Menschen sind, die Temperamente haben. Man sollte spüren, dass kritische Urteile immer auch ein Element von Subjektivität haben und dass es verschiedene Wege gibt, einen Text zu lesen und zu bewerten. Das merkt man aber erst, wenn sie sich darüber streiten. Urteile sind nichts, was vom Himmel fällt, sondern müssen erarbeitet und erdacht werden. Erst in der Diskussion kristallisiert sich ein Urteil heraus. Insofern wünsche ich mir diese Streitbarkeit und den Schlagabtausch der Jury zurück.

W. F. Schmid: Vor neun Jahren stellten Sie fest, dass die TDDL immer »etwas Riskantes, Lebendiges, Experimentelles, etwas der Verwertung Entzogenes enthalten«. Konnten sie das dieses Jahr auch feststellen?

M. Hielscher: Nur in Resten. Damit meine ich Texte z.B. von Angelika Reitzer, Heike Geißler oder Dagrun Hintze. Aber auch, dass es den Preis überhaupt noch gibt. Man kann sagen, 3sat und ORF wiegeln das momentan ein bisschen ab. Noch senden und finanzieren sie es. Noch ist man stolz, dass es in Klagenfurt den Bachmann-Preis gibt, weil man das vor allem als Tourismusförderung betrachtet. Durch nichts ist der Ort so bekannt geworden, wie durch den Bachmann-Wettbewerb. Aber das, was ich einmal gesehen habe, nämlich das Experimentelle, ist nur noch rudimentär vorhanden und befindet sich im Stadium der Regression. Man muss schauen, inwieweit man das überhaupt noch erhalten kann oder ob es dann doch ganz verloren geht.

W. F. Schmid: Die mediale Vermittlung geht immer schneller neue Wege, während Literatur an sich eigentlich eine gewisse Ruhe benötigt. Hält der Bachmann-Preis auf weitere Sicht dieser immer größer werdenden Kluft stand?

M. Hielscher: Die neue Konzeption ist ja wahrscheinlich der hilflose Versuch, diese Kluft zu schließen, weil man meint, indem man den Bachmann-Preis dem Medium Fernsehen anpasst, macht man ihn sexyer. In Wirklichkeit macht man ihn damit natürlich kaputt. Die Antwort aus meiner Sicht wäre darauf, diese Kluft offen zu halten und nicht krampfhaft zu versuchen zwischen dem langsamen Medium Literatur, der Streitkultur einer Jurydiskussion und dem Fernsehmedium mit seiner schnelleren Zeitstruktur eine künstliche Kompatibilität herzustellen. Genau das kann nicht gelingen. Wenn dies trotzdem noch weiter Schaden nimmt, würde sich der Bachmann-Preis selbst beerdigen. Es kann gut sein, dass das passiert und dass man sagt: »Es lohnt nicht mehr.« Zu beachten ist auch, ob die Juroren und Autoren überhaupt unter diesen neuen Bedingungen weitermachen wollen.

Auch der finanzielle Aspekt ist zu überdenken. Es ist nun einmal viel Geld, das verteilt wird. Man muss sich überlegen, ob man bei sieben Autoren, die in die engere Wahl kommen, überhaupt noch vier Preise verteilt. Das hat schon fast etwas Komisches, unter sieben Autoren vier oder im Zweifelsfall mit dem Publikum zusammen insgesamt fünf Preise zu vergeben. Da kann man das Geld auch vorher schon verteilen. Vielleicht sollte man wie Jochen Jung in der Zeit schreibt dieses Geld zusammenlegen und nur noch einen Preis verleihen, der dann mit 60 000 Euro dotiert wäre. Damit kämen dann aber wieder die ganz großen Autoren dort hin, weil es einfach einen Haufen Geld gibt.

Der Preis ist allein durch die Berichterstattung seitens des Fernsehens und des Feuilletons immer noch hochattraktiv. Die Möglichkeit, dass einen Autor, den vorher niemand kannte, plötzlich alle kennen, existiert weiterhin. Insofern ist dieser Wettbewerb für Autoren marketingmäßig noch interessant. Aber selbst da ist die Frage, wie lange es sich noch hält und wie viele Leute sich das auf die Dauer noch antun wollen.

W. F. Schmid: Was ist Ihre Meinung zu Literaturwettbewerben generell? Ist Literatur überhaupt geeignet für einen sportlichen Wettkampf?

M. Hielscher: Der Bachmann-Wettbewerb hat ja dazu geführt, dass sich immer wieder bestimmte Autoren mit Texten präsentiert haben, die in diesem Format funktionieren, und sie haben den Impuls gespürt, gute und dichte Prosa zu schreiben. Somit hat der Wettbewerb für das Publikum auch faszinierende Autoren vorgestellt. Das gleiche gilt für den open-mike in Berlin, wo die Texte in der Hälfte der Zeit funktionieren müssen und das Genre auch breiter angelegt ist.

Autoren streiten ja auch in der literarischen Öffentlichkeit um Preise, um Plätze im Feuilleton, um Plätze im Verlagsprogramm, um Wahrnehmung. Für Autoren ist die Wettbewerbssituation ein Stück weit tägliches Brot. Das sind quasi freie Unternehmer, die sich behaupten müssen auf einem Markt, auf dem sie um bestimmte Gratifikationen kämpfen müssen. Das wird bei solchen Literaturwettbewerben nur besonders deutlich, ist aber alltägliches Schicksal der Autoren. Insofern ist das völlig in Ordnung, solange es auf eine seriöse und nachvollziehbare Art und Weise geregelt wird. Dazu gehört eine adäquate Auswahl der Texte, eine Jury, die angemessen beurteilen kann und eine Nachvollziehbarkeit im gesamten Prozedere.

W. F. Schmid: Findet man dadurch Texte, die für die Literatur an sich wichtig sind, oder nur welche, die für das Zeitgeschehen und die momentane Ästhetik wichtig sind?

M. Hielscher: Beides. Es kann durchaus sein, dass es Texte sind, die die Literatur an sich weiter bringen. Ganz einfach nämlich, wenn der Autor jemand ist, der im richtigen Moment den richtigen Nerv trifft und einen Text zustande bringt, der in einer halben Stunde ein ganzes Arsenal an neuen literarischen Stilmitteln und Wahrnehmungen vermitteln kann. Es kann aber auch sein, dass man ein bestimmtes Format sehr gut bedient und eine gute Performance hinlegt, es sich damit aber dann auch hat. Das ist das Risiko bei so einem Format. Ich finde nicht, dass das grundsätzlich gegen solche Wettbewerbe spricht. Es gibt keine Garantien dafür, dass die Literatur jedes Jahr voran gebracht wird. Es gibt immer auch Unwägbarkeiten, die man in Kauf nehmen muss. Wie viele wirklich gute Autoren gibt es und sind in der Lage, auf Zuruf gute Texte zu schreiben? Da muss man sich freuen, wenn ebendies wieder geschieht. Literatur ist in diesem Sinne nicht absolut planbar oder berechenbar. Genau das aber ist einer der Gründe dafür, warum wir die Literatur lieben. Sie hat eben etwas Überraschendes und Anarchisches. Sie kann immer wieder – aus dem Nichts kommend – die Welt komplett neu erfinden. Vielleicht mehr, als jedes andere künstlerische Medium.

W. F. Schmid: Danke für das Gespräch.

Offizielle Website | Bachmannpreis
Bericht zum Wettbewerb 2008 im poetenladen

Walter Fabian Schmid   10.07.2008

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