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Irgendwann ist die kulturelle Differenz nicht mehr relevant

Ilija Trojanow im Gespräch mit Walter Fabian Schmid

Ilija Trojanow, geboren 1965 in Sofia, floh 1971 mit seinen Eltern über Jugo­slawien und Italien nach Deutschland. Ein Jahr später zog die Familie nach Kenia, wo Ilija Trojanow, unterbrochen von einem längeren Deutschlandaufenthalt, bis 1984 lebte. Anschließend studierte er in München Rechtswissenschaften und Ethnologie und gründete zwei auf afrikanische Literatur spezialisierte Verlage. Weitere biografi­sche Stationen waren Mumbai (1999) und Kapstadt (2003 bis 2007).

2006 er­schien sein Roman »Der Weltensammler«, der den Autor berühmt machte. Ilija Trojanow erhielt unter anderem den Preis der Leipziger Buchmesse (2006) und den Würth-Preis für Europäische Literatur (2010). Er war Stadtschreiber in Mainz und Poetik-Dozent in Tübingen. Derzeit lebt er in Wien.

Walter Fabian Schmid: Lieber Ilija Trojanow, ausgehend von Ihrem Lebens­lauf kann man Heimat wohl kaum als statische Größe bezeichnen.

Ilija Trojanow: Nein, das sicherlich nicht. Ich weiß aber auch nicht, ob man das bei anderen Leuten kann. Heimat ist eine der Fiktionen, mit denen ope­riert wird. Es ist ein extrem diffuser und komplexer Begriff, wenn man ihn von der Ideologie freischaufelt. Schaut man sich an, womit sich die Men­schen eigentlich identifizieren, dann sollte man nicht geografische, sondern persönliche Indikatoren nennen. An erster Stelle stehen da die Menschen, die einem ganz nahe sind, also die Heimat der Familie und der Liebe. An zweiter Stelle steht dann das kulturelle Gemisch, das sich ein jeder von uns heranzieht. Und das ist etwas, was sich durch den freien Zugriff auf kultu­relle Güter und durch die Inspirationen aus der gesamten Welt zunehmend kosmopolitisch wandelt.
  Bezogen auf Autoren ist Heimat etwas, das man in seinen Texten konstruiert. In den Texten entsteht immer wieder eine neue Heimat. Insofern ist Heimat am besten zu definieren als das, worauf sich sehr selten zwei intelligente, gebildete Menschen einigen können.

W. F. Schmid: Also ein Aushandlungsprozess ...

I. Trojanow: Natürlich wird es zu einem dynamischen Prozess. Das hört in­teressanterweise mit dem Alter auch nicht auf. Ich merke jetzt gerade, wie mir bestimmte Aspekte von Wien wichtig werden, und wie schnell man sich daran gewöhnt, dass sie zum eigenen Leben dazu gehören.

W. F. Schmid: Können Sie dann dem Idiom „Sprache ist Heimat“ noch un­eingeschränkt zustimmen?

I. Trojanow: Für einen Autor ist Sprache immer Heimat. Die Sprache ist ja die Grundenergie des Textes.

W. F. Schmid: Hat man ein anderes Gespür für die Sprache?

I. Trojanow: Ja, man hat eine andere Art der Sensibilität, wenn man sich die Sprache angeeignet hat. Das ist wie eine Liebesbeziehung, die immer neu bleibt. Man erachtet die Sprache nicht als gegeben und ist sich um ihrer besonderen Möglichkeiten und Qualitäten bewusster. Das liegt vor allem an der Mehrsprachigkeit. Selbst wenn es kein bewusster Akt ist, so gibt es immer das Moment des Sprachvergleichs und das Moment, dass man von einer Sprache in die andere etwas hinüberzieht, egal, ob das etwas Idio­matisches oder Sprachschöpferisches ist. Deswegen treten durch mehr­sprachige Autoren zwangsläufig Neuerungsprozesse ein.

W. F. Schmid: Spüren Sie, dass das als Einbruch eines Fremden in die deutsche Sprache wahrgenommen wird?

I. Trojanow: Es gibt ja diesen Satz von mir, der immer zu großem Gelächter führt: „Die deutsche Sprache ist ausländerfreundlicher als die Deutschen.“ Die Sprache fordert einen nicht auf, sich zu assimilieren, sondern lädt den Autor geradezu ein, sie zu gestalten und zu formen. Und das geschieht ohne jegliche Hemmschwellen und ohne jegliche Vorbehalte, was die Rezeption angeht. Das war in den 60er und 70er Jahren noch ein bisschen anders. Da gab es einige Kritiker mit der Haltung „der schreibende Gastarbeiter hat die Sprache zwar erstaunlich gut gelernt, so richtig anwenden kann er sie aber noch nicht“. Dabei wurde nicht erkannt, dass es kein Mangel an Sprach­kenntnis ist, sondern dass diese Autoren absichtlich etwas Schiefes, etwas Fremdes in die Sprache hineinbringen wollten, und dass sie die soziale Differenz durch eine Sprach­differenz ausdrücken wollten.

W. F. Schmid: Heute gibt es also keinen Hauch mehr von Benachteiligung?

I. Trojanow: Im Gegenteil. Meine deutsch-deutschen Kollegen spötteln schon, es sei ein Wettbewerbsvorteil, Migrant zu sein. Ein Nachteil ist es mit Sicherheit nicht mehr. Niemand, der mit einem fremden Namen ankommt, hat aufgrund dessen Schwierigkeiten in Zeitschriften publiziert zu werden oder einen Verlag zu finden. Für so einen Autor ist es eigentlich sehr schnell möglich durchzustarten. Ich denke da zum Beispiel an Saša Stanišic oder María Cecilia Barbetta. In der Musik dominieren die Migranten ja sowieso, und im Kino ist Fatih Akin derzeit wohl der erfolgreichste deutsche Regis­seur. Ich sehe, was die Kunst angeht, hier eigentlich gar keine Probleme.

W. F. Schmid: Haben Sie zur deutschen Sprache auch aus dem Grund eine Liebesbeziehung, weil es ein offenes System ist, das das Fremde leicht integriert?

I. Trojanow: Ja, das Deutsche ist an Flexibilität natürlich kaum zu überbieten. Nicht nur auf lexikalischer Ebene, sondern auch auf der Rezeptionsebene. Das Wort „Weltensammler“ zum Beispiel wird inzwi­schen völlig selbstverständlich benutzt. Obwohl es das vorher nicht gab, benutzt es innerhalb kürzester Zeit jeder.

W. F. Schmid: Sie sprachen vorher von dem Moment, dass man von einer Sprache in die andere „etwas hinüberzieht“. Das ist doch relativ schwierig vor allem in Bezug auf feste Redewendungen. Wie schwer wiegt eigentlich der Verlust von Sprache, von bestimmten Ausdrücken und Bezeichnungen? Man muss ja doch sehr viel zurücklassen, was man in die andere Sprache nicht rüberziehen kann.

I. Trojanow: Da muss man zwei Sachen auseinander halten. Zum einen den Prozess der Sprachaneignung, zum anderen den Prozess des Schreibens. Beides passiert ja seltenst parallel. Gemeinhin ist es so, dass man sich die Sprache angeeignet hat und dann mit einer fast einhundertprozentigen Kontrolle über die Sprache Texte verfasst, in denen der Autor ganz bewusst zweierlei macht: Das eine ist, gewisse Lücken in der deutschen Sprache zu füllen, weil in dem vorhandenen Material etwas nicht gesagt werden kann, was gesagt werden möchte. Dann muss man eben nach einer subjektiven Präzision suchen, weswegen man Neuerungen zum Beispiel durch idiomatische Verschiebungen einführt. Das andere ist, thematisch etwas Interkulturelles auszudrücken. Da sind solche Verschiebungen enorm wichtig, weil sie auf der sprachlichen Ebene vermitteln, was mit den Figuren passiert. So kann man ihre Verwirrung, ihre Verlorenheit, ihr Ausgesetztsein und ihr Ankommen in der Fremde vermit­teln. Das machen sehr viele Autoren sehr erfolgreich.

W. F. Schmid: Abgesehen davon, dass man das absichtlich konstruiert, ist es nicht auch so, dass man als Sprachwechsler automatisch doppelt und dreifach Konnotationen mitdenkt? Ergibt sich da nicht von selbst eine viel­bödige Poesie?

I. Trojanow: Ich glaube, dass das wirklich nur bei Poesie so funktioniert. Da Prosa vor allem ein Prozess der Überarbeitung ist, gibt es zu viele Momente, wo man inne hält und sich das Ganze in Ruhe anschaut. Wenn man dem Strom des Schreibens sachlich-nüchtern entrückt, werden einem solche un­bewussten Einflüsse und Verschiebungen von anderen Sprachen bewusst. Und dann überlege ich mir, ob es sinnvoll ist und mehr vermittelt, oder ob es nur ein Sprachspiel und Ausdruck meiner eigenen Vielsprachigkeit ist. In solchen Fällen vermeide ich es. Ich benutze es wirklich nur, wenn es dem Text dient.

W. F. Schmid: Sie verspüren also auch keinen besonderen Drang zur Spracherweiterung und zum Sprachspiel?

I. Trojanow: Nein. Auch im Vergleich zu Kollegen mit einer ähnlichen Biografie hebe ich mich nicht besonders hervor.

W. F. Schmid: Was können die Sprachwechsler der deutschen Sprache auf allgemeiner Ebene geben?

I. Trojanow: Ich bin nicht sicher, ob der Mehrwert, den sie produzieren, wirklich auf der Ebene der Sprache stattfindet. Ich denke da eher an die enorme Erweiterung der Themen, die in die deutsche Literatur hinein­kommen.
  Literatur ist ja meistens ein Gespräch mit Toten und diese Toten sind bei Migrationsautoren Tote aus anderen Zusammenhängen. Das Gespräch findet nicht mit den Toten statt, die in den gegebenen ­Ländern gewirkt haben, sondern mit fremden Ahnen. Die ganzen türkischen, russischen, arabischen Figuren, die von vielen meiner Kolleginnen und Kollegen ein neues Leben erhalten, sind natürlich dem deut­schen Sprachraum fremd gewesen. Insofern geschieht eine Erweiterung der Ahnen, was ich sehr interessant finde. Deutsche Kinder wachsen durch Rafik Schami wie selbstverständlich mit irgendwelchen syrischen Großvätern auf, die ihnen eigentlich fremd sein müssten. Aber aufgrund dessen, dass Rafik Schami auf deutsch schreibt wird diese Fremde überwunden. Das ist eine ganz zentrale Leistung dieser Autoren. Sie nehmen der Fremde das Bedrohliche weg, weil diese Fremde zu einem Teil unserer literarischen Inszenierung wird. Und irgendwann ist die kulturelle Differenz gar nicht mehr relevant – zumindest nicht in einem antagonistischen Sinne.

W. F. Schmid: Meines Erachtens stellt die „Global Literature“ durch ihre Welthaltigkeit thematisch eine Gegentendenz zur viel gescholtenen deut­schen Nabelschau dar. Sollte man sie deswegen auch als eine eigene Strömung wahrnehmen?

I. Trojanow: Das, was Sie als „Global Literature“ bezeichnen, bestimmt meiner Meinung nach die deutsche Literatur. Die Frage ist, ob es wirklich eine Strömung ist, denn wo wären dann die Ufer? Die betreffenden Autoren sind extrem disparat. Man kann so nicht wirklich von einer Strömung spre­chen. Es wäre auch nichts gewonnen, wenn man das mutwillig als Strö­mung definieren würde. Und wäre das dann nicht auch eine Art Ghet­toisierung? Es ist doch besser, wenn man sagt, es ist selbstver­ständlich; so, wie man sagt, dass Kafka zur deutschen Literatur gehört, wie auch Paul Celan oder Elias Canetti. Da gibt es eine lange Reihe von Autoren aus früheren Generationen, die ähnlich kosmopolitisch zu Gange waren.

W. F. Schmid: ... und sich genauso unterscheiden in stilistischer, thema­tischer und formeller Hinsicht.

I. Trojanow: Enorm. Wie will man die drei, die ich gerade genannt habe – abgesehen davon, dass sie alle drei Juden sind –, auf einen Nenner brin­gen? Das ist wahrscheinlich unmöglich. Und genauso unmöglich erscheint es mir bei den derzeitigen Autoren.

W. F. Schmid: Wenn man sich die Situation von Autoren mit Migra­tionshintergrund anschaut, haben die ja sowohl die Kenntnis der Traditionen, der Normen und Verhaltensweisen ihrer Herkunftsländer, als auch die der aktuellen Lebenswelt. Das birgt zunächst ein Konfliktpotential, aber auch ein sehr großes Potential der Kulturvermittlung. Was sollte ihrer Meinung nach politischgesellschaftlich unternommen werden, damit das Konfliktpotential gesenkt und das Vermittlungs­potential geschöpft wird?

I. Trojanow: Das ist natürlich eine riesige Frage, die könnte man über Jahre hinweg diskutieren. Ich habe das ja gemeinsam mit Ranjit Hoskoté in Kampfabsage versucht zu formulieren. Zusammenfassend würde ich sa­gen, dass ich ganz klar fordere, dass wir das Verhältnis von Eigenem und Fremdem grundsätzlich überdenken. Wir operieren da mit Terminologien, die veraltet sind, sollten sie überhaupt irgendwann einmal von Nutzen gewesen sein. Das sind Terminologien, die extrem geprägt sind vom natio­nalstaatlichen Denken, einem statischen Denken in Einheiten und Grenzen. Die dynamisch komplizierte Realität des Kosmo­politischen wird dadurch einfach nicht erfasst. Das fängt ja schon bei dem verzweifelten Versuch an, das Hybride irgendwie zu benennen. Ich glaube, dass wir realisieren müs­sen, dass das Kosmopolitische nichts Neues ist. Immer wenn es existiert hat, und es zudem mit einer Freiheit praktiziert werden konnte, in der etwas Unterschiedliches zusammenkam, das miteinander kommunizieren konnte, immer dann gab es das, was wir Hochkultur bezeichnen, immer dann gab es enorme künstlerische Errungenschaften und Leistungen. Wenn man das erst einmal als historische Realität annimmt, dann ist der zweite Schritt zu fragen, wie denn diese Momente des Zusammenflusses aussahen, was sie aus­gezeichnet hat und was die notwendigen Rahmenbedingungen waren. Aus der historischen Realität heraus glaube ich, das Einzige, was wir nötig haben, ist, dass alle Beteiligten Zugang haben zu den Instrumenten und den Infrastrukturen, die notwendig sind für ein literarisches Leben. Und das ist im deutschsprachigen Raum im Moment ja gewährleistet.

W. F. Schmid: Und die Konflikte?

I. Trojanow: Ich glaube, dass Konflikte dazugehören, dass sich sehr viel entzündet an den Reibungen zwischen Sprachen, Konzepten und Prä­gungen. Das funktioniert momentan so gut, da hätte ich eigentlich fast Angst, dass ein gutgemeintes Eingreifen wieder zu irgendwelchen festen Strukturen führt.

W. F. Schmid: Das hybride System der verschiedenen Kulturen funktioniert also im Bereich der Kunst derzeit als dynamischer Selbstläufer...

I. Trojanow: In einem Satz: Wenn es ein Grundrecht auf Kultur gäbe, so müsste es auch ein Grundrecht auf Missverständnis geben. Vieles von dem, was wirklich kreativ ist, entsteht aus Missverständnissen. Das bleiben aber natürlich nicht langfristig Missverständnisse, sondern sie eröffnen eine neue Bahn, neue Zusammenhänge und neue Formen.

W. F. Schmid: Verstehe. Haben Sie Lust auf ein Spiel?

I. Trojanow: Sicher.

W. F. Schmid: Dann stell ich jetzt eine These auf, die Sie mir bitte abstreiten: In der EU gibt es als Grenzen eigentlich nur noch kulturelle Grenzen. Das existentielle Bedürfnis nach Identität – auch nationaler Identität – kann so nur noch auf kultureller Ebene befriedigt werden. Die kulturellen Grenzen werden sich deswegen eindeutig schärfer herausprägen.

I. Trojanow: Das ist ja einfach.
  Erstens: Nationale Identität gibt es nicht. Außer vielleicht in der ­Walhalla.
  Zweitens: Kulturelle Grenzen sind immer regional. Über die Behauptung, dass die Unterschiede zwischen Österreich und der Schweiz größer seien als die zwischen Vorarlberg und dem Burgenland, kann ich nur lachen. Natürlich gibt es kulturelle Differenzen, aber man muss beginnen, sie auf einer erheblich kleineren Ebene wahrzunehmen. Dort ist es so, dass der Kampf um die eigene Identität auch ein Kampf gegen Nivellierungs­tendenzen des globalisierten Kapitalismus ist. Da gibt es eine ganz klare Gegentendenz, auch in der Literatur. Das merkt man ja zum Beispiel an dem enormen Erfolg von Lokalkrimis, die es vor 10 Jahren so noch nicht gab. Viele dieser Krimis sind eben genau deswegen erfolgreich, weil sie eine bestimmte Region liebevoll, genau und als eigenartig beschreiben. Das ist auch eine Tendenz, die zunehmen wird. Ich finde das völlig selbstver­ständlich, dass die Menschen – auch im Sinne eines politischen Prozesses – der Containerisierung ihres Lebens die lokalen Gegebenheiten entgegen­setzen. Die Leute merken, dass es eigentlich entwürdigend ist, wenn alle weltweit mit demselben abgefüllt werden. Ich glaube, es ist ein normaler menschlicher Vorgang, sich mit der unmittelbaren Umgebung zu identi­fizieren, und von ihr geprägt werden zu wollen. Hier sehe ich eher die entschei­denden Impulse.

W. F. Schmid: Die Globalisierung wird uns ja eigentlich nur oberflächlich vorgegaukelt, wie Sie auch in ihrem Pamphlet Angriff auf die Freiheit deutlich herausstellen. Gleichzeitig wird die innenpolitische Macht unter anderem durch die Konstruktion von Feindbildern ausgeweitet. Hat der Mensch ein­fach zu viel Angst, dass er jedem Warnschrei einer Bedrohung erliegt?

I. Trojanow: Da gibt es viele Gründe, wieso die Menschen Verunsicherung verspüren. Die sozialen Netze, sei es privater, sei es gesellschaftlicher Art, sind etwas angeschlagen, man weiß nicht, wie sich die Arbeitslosigkeit weiter entwickelt, und man weiß nicht, wie sich die Instabilität der Finanz­märkte weiter entwickelt. Es gibt ernstzunehmende rationale Gründe für eine Verunsicherung. Eine andere Frage ist natürlich, wer diese Verunsicherung in welche Richtung lenkt. Das ist das Establishment, der Status Quo, die herrschenden Interessen. Sie versuchen abzulenken von den eigenen Unzu­länglichkeiten. Das haben die Machthaber ja schon immer gemacht. Da kam der Islamismus als visuell sehr prägnante Gefahr natürlich extrem gelegen. Die enorme oberflächliche Differenz, also die langen Bärte, die verhüllten Frauen, die ist sehr leicht medial zu vermitteln. Und was die Medien vermit­teln, ist ein Gegen­modell zu unserer Welt, gegenüber dem es nur ein Ent­weder-Oder geben darf. Entweder wir können uns durchsetzen, oder sie werden uns zwingen, auch mit langen Bärten rumzulaufen. Das wird seit 10 Jahren von jeglichen Medien inszeniert. Jeder kleinste Anlass wird genom­men, ­Hysterie zu erzeugen. Jedes kleine private Video führt dann dazu, dass auf jedem deutschen Flughafen massenhaft schwerbewaffnete Polizisten rumstehen, und die Massen glauben die vermittelten Anschauungen. Wo das hinführt hängt davon ab, wie die Gesellschaft, wie der Einzelne sich verhält.

W. F. Schmid: Und wie soll er sich verhalten?

I. Trojanow: Das beste Verhalten ist natürlich, sich möglichst genau zu informieren und möglichst wach und aktiv seine eigenen Interessen zu verteidigen. Man darf sich vor allem nicht einreden lassen, dass die Welt nicht anders aussehen kann und dass es nur die Lösungen gäbe, die die Herrschaft des Augenblicks einem vorgaukelt. Das ist eigentlich klar. Viel unklarer ist, warum sich so viele Menschen damit zufrieden geben.

W. F. Schmid: Herzlichen Dank für dieses Gespräch.
     Erschienen in poet 8
poet nr. 8
literaturmagazin
poetenladen, Leipzig 2010
poet-Info-Website
Gesprächstext: 16.03.2010

Wie erleben Schriftsteller anderer Länder die deutsche Sprache und Literatur? Gibt es den kosmopolitischen Autor oder wird angesichts einer alles nivellierenden Globa­lisie­rung das Regionale in der Literatur wichtiger? Der poet (Ausgabe 8) hat Autoren zum Thema Sprache und Heimat befragt: Ilija Trojanow, María Cecilia Barbetta, Luo Lingyuan, Jan Faktor, You-Il Kang.

Walter Fabian Schmid   
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