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Philippe Jaccottet

Die Lyrik der Romandie
Eine zweisprachige Anthologie

Auf der anderen Seite des Röstigrabens

Philippe Jaccottet: Die Lyrik der Romandie
Philippe Jaccottet
Die Lyrik der Romandie
Eine zweisprachige Anthologie
Nagel & Kimche 2008
„Wie schwach aber müssen wir sein, / so uns aufzugeben, nur weil die Sonne verdeckt ist, / und nicht imstande zu sein, für einige Stunden / ein Wolkenbündel auf unseren Schultern zu tragen …“, spricht ein trost­spendender Dichter mit Sensibiltät für seine Umwelt. Mit der Gabe des filigranen Beobachters, mit der sich Philippe Jaccottet als Lyriker bewegt, hat er für die zweisprachige Anthologie 17 Dichter der Romandie ausgesucht, die mit ihren Texten einen Zeitraum von 1913 bis 2005 abdecken.

Nun kann man zwar von diesem – aus deutscher Sicht oft vernachlässigten – Teil der Schweiz nicht als kulturelle Einheit, denn vielmehr als Vielfalt sprechen, aber eines bleibt nach außen hin dennoch: die gemeinsame Sprache, das Französische. Die Gedichte zeigen aber mehr. Nämlich die ungebrochene Einbettung in diesen Landstrich und eine unglaublich sinnliche Wahrnehmung der Natur. Auch für Außenstehende entsteht das Gefühl, das lyrische Ich sei eingebettet in die Natur als dessen besonderer Teil. Als Romands kann man die Natur noch als Erlebnis in der Dichtung verarbeiten.

Charles-Ferdinand Ramuz' Lobgesang auf die obere Rhône zwischen Côtes du Rhône und dem Rhônegletscher ist wohl eines der rhythmischsten Prosastücke der europäischen Literatur. Seine Prosa fließt, sprudelt und stupst sich mit ihrer eigenen Dynamik immer wieder zur Vorwärtsbewegung an. Sacht und weich schmiegt sich die Rhône bei den anderen. Wenn auch nicht ausdrücklich erwähnt, so scheint sie allgegenwärtig: aus einer Umfriedung mit der Landschaft heraus fließt sie ruhig durch die Verse. Und dazwischen bläst wie bei Jacques Chessex immer wieder der melan­cholisch-sinnliche Sturm mit der Schwere der Sehnsucht.

In der Romandie kann man noch auf Sänger verweisen. Demütig stimmt Pierre-Louis Matthey seine Klagelieder an: „Schweigen ist die Tugend des schuldigen Sängers“. Aber die Sänger der Romandie sind wandernde Sänger, die auf ihrem Weg immer die kleinen Details beleuchten. Genügsam wird von der Liebe gesungen. „Das Herz allein wandert“ (Anne Perrier). Das wahre Geheimnis liegt im Sichtbaren und die Tiefe an der Oberfläche. So einfach ist das.

Die Natur ist zwar kein Spiegel Gottes mehr, aber sie ist dennoch Anlass für den Menschen, in den Spiegel zu schauen. Und da zeigt sich nicht selten ein mit Rissen gezeichnetes Herz.

„Mein Weg kommt aus dem Land, wo leben mich zerreißt:
Ein Soldat des Herrn erschlug an seinem Rande
Jene, die um ihr Herz, die um ihr Lächeln ich geliebt,
Mich leben lassend und allein, zu zählen diese Toten.“
(Edmond-Henri Crisinel)


Diese Klagen sind jedoch nie anmaßend. Wäre da nicht Jeanclaude Berger, dieser poète maudit, der einem seine Verse im Stile des unterschätzten Lyrikers Kinski entgegenspuckt.

„komm!

greifen wir zu unseren zähnen
zerschlagen wir die fenster
massakrieren wir alle vögel
der himmel ist leer
die erde hohl“


Kein Fünkchen von Sprachspeksis findet sich in dieser Anthologie und man ist vereint durch den unbeirrbaren Glauben an die Subjektivität. Zwar blieben auch die Suisse Romands durch die Schweizer Neutralität an den großen politischen Ereignissen relativ unbeteiligt, aber natürlich nicht ganz unberührt. Das lyrische Ich von Pierre-Alain Tâche verarbeitet in Die Kinder der Theresienstadt den Holocaust als naiver Vierjähriger, der sich, ohne es zu ahnen, schuldlos schuldig fühlt.

Zu dieser einmaligen Anthologie tragen nicht zuletzt Jaccottets Einführungen zu jedem „seiner“ Dichter bei. Durch seine erzählten Erinnerungen an die Begegnungen mit den Lyrikern stimmt er sehr persönlich auf die jeweilige Poesie ein. Wenn auch das ein oder andere Mal ein bisschen zu lapidar, vermittelt er sowohl einen Einblick in das Lebensgefühl des entsprechenden Dichters, als auch in seine Schreibumstände, seine Formsprache und die Rezeption. Jaccottet spannt die Verbindungen untereinander, so dass ein allzusammenhängendes Gewebe entsteht.

Ein Hoch auf die deutsche Sprache lassen einem die Übersetzungen von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz anstimmen. Wie schön ist doch die einfache Form der Komposition. „Dem schwarzschmelzenden Schnee / und der Asche von Frühlingsbäumen / ward ich gegeben“ ist nun mal ein ganz anderer Klang als „A neige qui fond noire / et à la cendre des arbres du printemps / je fus livré.“ (Maurice Chuppaz). Edl und Matz sind nicht nur fähig, den poetischen Gehalt wiederzugeben, sondern die Gedichte bekommen eine eigenständige deutsche Gestalt.

Mit dieser Anthologie ist es gelungen, die lyrische Farbenpracht der blühenden und manchmal auch tristen und schmerzenden Romandie widerzuspiegeln. „Ich gehe, ich staune, und mehr zu sagen ist mir verwehrt.“ (Philippe Jaccottet)
Der Herausgeber Philippe Jaccottet, geboren 1925 in Moudon / Kanton Waadt, trat bisher als Lyriker und Übersetzer hervor. In Übersetzung erschien von ihm zuletzt Der Pilger und seine Schale (Hanser 2005). Er wurde ausgezeichnet u.a. mit dem Petrarca-Preis (1988), dem Friedrich-Hölderlin-Preis (1997) und dem Horst-Bienek-Preis für Lyrik (2000).
Walter Fabian Schmid   19.09.2008   
Walter Fabian
Schmid
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