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Robert Åsbacka
Das zerbrechliche Leben

Mensch, willst du leben seliglich
Kritik
Robert Åsbacka. Das zerbrechliche Leben   Robert Åsbacka
Das zerbrechliche Leben
Hanser 2010
320 Seiten | 19,90 Euro


„Im Herbst vierundneunzig war Siri dann zu dieser Reise aufgebrochen. Heute vor zwölf Jahren, auf den Tag genau. Seitdem war nur noch er übrig.“ So schnell schnappt die Zeit in zerbrechlichen Leben und schnappt die Leben weg. Ein 78 Jahre altes Leben namens Thomasson bleibt einsam zurück, ein träger Stoiker, über dem der Himmel immer grau ist. Farbe brachte nur Siri in Thomassons Leben, Siri, die unterschiedlicher nicht sein könnte als ihr Ehemann, die ihm kultur­beflissen jeden Abend vorlas, die leiden­schaftlich Organistin war, und durch die Leiden­schaft in das Verhängnis stürzt: Von ihrer Orgel­schau in Tallinn fährt sie auf der Estonia nach Hause, und die sank bekanntlich vierundneunzig.

Zurück kam sie nicht mehr, nicht mal als Leiche, die Leichen wurden nicht geborgen, doch Thomasson wartet und baut eine Orgel. Nicht aus romantischer Verklärung, um sich zu ihr zu orgeln, nein, die Orgel pfeift nicht als Sprachrohr des Unend­lichen; Thomasson kann gar nicht spielen, und wenn, dann wären es barocke Töne, von Dietrich Buxtehude, seinem Lieb­lings­komponisten, und im Barock da wurden noch Affekte geweckt, die Musik sollte das Herz des Hörers rühren, und so baut er rührend seine Orgel, „damit sie da stehen, und auf sie warten sollte, bis sie zurückkehrte.“

So lebt er dahin; und weil er nicht einmal die Kinder seiner ebenso verstorbenen Tochter kennt, ist sein einziger Rückhalt, vor dem er sich auch noch drückt, Berg – das personifizierte Fernsehgerät, das den ganzen Tag vorm Elektroladen sitzt; das Fließmedium der Stadt, das sich vom Waschweib zum Gesell­schafts­analytiker wandelt. Vereinsamt auch er, an dem Thomasson bei seinen Spaziergängen vorbeistreunt. Doch mit jedem Ausgang geht er selbst dem Tod entgegen.

Was einen am meisten am Leben hält, bringt einen meist um, und immer ist es die Neugierde, die Thomasson in Gefahr bringt, die ihn mehr und mehr verkrüppelt: erst ein verstauchter Knöchel, dann die Hand gebrochen, und ein Politiker fährt ihn auch noch an. Und das ist das größte Glück! Es gibt immer Hilfe, die auch in seinem Leben bleibt. Thomasson bekommt eine reiche, aber schicksals­beladene Koloratur: durch Riita, die ihren Mann verlor, die ihre Arbeit in der Textil­fabrik verlieren wird; durch ihren Sohn Mika, ein randständiger Schüler, der schwänzt und strawanzt, der trotz seines Hangs zum Autismus an Thomasson hängt; durch die 22-jährige Kunst­schülerin Agnes, die wie Sophie Calles Exquisit pain Erzählungen über schlimmste Schmerz­erfahrungen sammelt und ausstellt. So stopselt das Schicksal Thomasson eine neue Familie zusammen.

Was nervt an dem Roman sind die konstru­ierten „Zufälle“, die alles aufeinander beziehen: Thomasson hat selbst als Lager­vorsteher auf einer Fähre gearbeitet, während Siri auf der Estonia umkommt, im Radio wünscht sich jemand, der ebenfalls eine Orgel gebaut hat, ausgerechnet Buxtehude, und der Politiker, der Thomasson anfährt, ist mit einer Buhle unterwegs, so dass ihn auch noch die Vergan­genheit überrollt, weil er selbst auf der Fähre Siri fremdging. So kammerstückt der Roman vor sich hin. Nein!

Es nervt nicht. Grandios komponiert ist er, der erste auf Deutsch übersetzte Roman des 48-jährigen Finnen und schwedischen Mutter­sprachlers, umkleidet er doch Buxtehudes Kantaten­zyklus Membra Jesu nostri als Gerüst. Åsbacka schürft aus Buxtehudes Motive seine Themen, führt sie durch wechselnde Situationen, er moduliert die eigenen Sätze, et voilà, Das zerbrechliche Leben wird ein eng geflochtenes, geschlossenes Stück, innner­halb dessen ein lockeres Gefüge spielen darf.

Åsbacka weiß, wie man Affekte weckt: Mit subtilen Wechseln der erzähle­rischen Mittel, des Timbres und des Settings kitzelt er sie aus dem Leser. Wo Buxtehude Concerto und Arie zur Kantate verschmolz, ist Åsbacka die Musik das geistliche Konzert und die Literatur ist ihm die Arie. Beides wird zur Metasprache durch die Thomasson den ganzen Roman hindurch mit seiner verstorbenen Frau kommuniziert. Beckett. Vor allem Beckett ist der leiden­schaftliche letzte Spruz im Affektspender. Wenn Berg in der städtischen Aufführung von Glückliche Tage die Winnie mimt, ist Siri in der Leere der Kommunikation Becketts zum Streicheln nah.

Åsbackas feine Komposition verkraftet auch den ein oder anderen Seiten­satz als ornamen­tales Klinker­spiel. Mit viel Lakonie und finnisch-verschro­benem Humor ruft der viel­schichtige Roman ein Plädoyer für die Menschlichkeit der Provinz aus, ein Plädoyer für ein selbstgenügsames, aber würdevolles Altern. Einsamkeit gibts nicht, life is always splendid, und so schmilzt gar King Lear vorm zerbrechlichen Leben: „solange wir sagen können ›dies ist das Schlimmste‹, ist das Schlimmste noch nicht geschehen.“
Walter Fabian Schmid    15.02.2010   
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