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Herta Müller
Atemschaukel

Als die Hautundknochenzeit da war
Kritik
Herta Müller. Atemschaukel   Herta Müller
Atemschaukel
Roman
Hanser 2009
304 Seiten Seiten, 19.90 Euro


„Wir waren alle in keinem Krieg, aber für die Russen waren wir als Deutsche schuld an Hitlers Verbrechen.“ Nicht weniger als 80.000 Rumäniendeutsche trieb diese auferlegte Schuld nach dem Sturz und der Hinrichtung des Diktators Antonescu ins russische Arbeits­lager. Alle Männer und Frauen zwischen 17 und 45 sollten deportiert werden, um Russland beim „Wiederaufbau“ zu helfen. Bis heute blieb das Thema in Rumänien tot­geschwiegen, und selbst von ihrer Mutter, die 5 Jahre interniert war, konnte Herta Müller jene dunkle Seite der rumänien­deutschen Geschichte nicht erfahren.

Ausgerechnet Oskar Pastior, dem das Lager die Sprache zerbrochen habe, war der einzige unter den aufgesuchten Gesprächs­partnern, der die Sprache fand für diese Vorgänge. Zunächst ein gemeinsames Buch planend, besichtigte Herta Müller mit Pastior das Lager, in das er verschleppt wurde, und führte intensive Gespräche mit ihm. „Oskar Pastior erzählte, und ich hab es aufgeschrieben“, beschreibt Herta Müller die Recherche für ihren neuen Roman. Durch den Tod Pastiors 2006 und den ungestillten Drang, den Stoff aufzuarbeiten, ließ das Projekt Herta Müller erst recht keine Ruhe. Was mit Atemschaukel durch das Bündeln der aus­einander­laufenden Notizen heraus kam, ist aber bei Weitem kein bio­graphischer Roman über Pastior; es ist ein Roman über die gravie­renden Erfahrungen eines jungen Depor­tierten, gesehen durch die Augen Pastiors, geschrieben in der Sprache Müllers.

Der 17-jährige Leopold Auberg kann es kaum erwarten von der Patrouille abgeholt zu werden. Einfach raus, raus aus der Dorfenge, wenn es sein muss ins Lager. „Vielleicht wurde nicht ich, aber der Schrecken in mir plötzlich erwachsen“, räsoniert der Ich-Erzähler 60 Jahre nach seiner Ent­las­sung über seine Jugendlichkeit, die ihm im Lager genommen wurde. Bei 68 Menschen in einer Baracke erkalten die Gefühle, bis sie gefrieren, und die Würde zerfällt. „Wir haben im Lager gelernt, die Toten abzuräumen, ohne uns zu gruseln. Wir ziehen sie aus, bevor die Starre kommt, wir brauchen ihre Kleider, um nicht zu erfrieren. Und wir essen ihr gespartes Brot. Nach dem letzten Atemzug ist der Tod für uns ein Gewinn“ Sogar die Haare der Toten dienen als Fensterkissen gegen den Luftzug.

Leopold ist ein brennscharfer Beobachter mit seinem Marter unter der Lupe, das anhand 64 einzelner Panoramen von der Autorin herausgebrannt wird. Herta Müller entwickelt ihren Roman entlang den Erfahrungs­partikeln Leopolds und spinnt die einzelnen Erzähl­fragmente um die Gegen­stände im Lager, um die Arbeits­einsätze und -Vorgänge, um die Lager­personen. Der eigentliche Prota­gonist des Romans ist aller­dings der „Hunger­engel“, die Figur des Todes­hungers. Der Hunger bestimmt im Lager jede einzelne Handlung, jeden Gedanken, selbst die Träume. Als „Hungerengel“ – ein Wort, das von Oskar Pastior stammt – wacht der Hunger plastisch und omnipräsent über „seinen“ Gefangenen, und wird als Personifikation greifbar, um ihn zu bekämpfen. Das Hungerdelirium schafft sich einen Galgenhumor, unter dem Kochrezepte als Witze erzählt werden, unter dem zwei Brotkugeln zum wertvollsten Weihnachstbaumschmuck werden. Die gängige Moral wird vom Hunger ebenso zerfressen; und das auf eine äußerst grausige Art. So isst in einer Erzählsequenz der Häftling Paul Gast seiner Frau solange die Krautsuppe weg, bis sie verhungert.

Atemschaukel entblösst ein Leben in einer bedingungslos aufgelösten Gesellschaft, ein Leben unter der unentrinnbaren Bedrohung des Todes durch Arbeit, durch Verhungern und Erfrieren, ein Leben in dem jegliches moralisches System zusammenbricht. Vor allem den Häftlingen der höheren Schicht verwischt die Extremsituation den Unterschied zwischen Recht und Unrecht. Die Einfacheren hingegen halten stand wie die wunderbar-wundersame Figur der geistig retardierten Platon-Kati, die in ihrem Schwachsinn überlebensfähig ist, weil sie dem „Hungerengel“ keine Angriffsfläche bietet, weil sie die Grausamkeiten des Lagers ertragen kann, indem sie keine menschlich-sitt­lichen Kausa­litäten aufrecht erhalten muss, sie gar nicht kennt.

Leopold Aubergs eigene Standhaftigkeit hängt von dem Halt ab, den ihm Fluchtwörter wie „Hungerengel“ oder „Herzschaukel“ geben. Die Sprache wird ihm zum einzig Beständigen; sie nimmt Gestalt an und wird zum Körper, der die Persönlichkeit umhüllt. Die Schönheit der Sprache Herta Müllers wird benötigt, um das Grässliche auszuhalten. Leopold Auberg muss sich die Qual sympathisch einrichten, er muss sich arrangieren mit dem Feind, muss sich mit der Gefahr identifizieren, um zu überleben. „Ich wünschte, die Herzschaufel wäre mein Werkzeug. Aber sie ist mein Herr. Das Werkzeug bin ich. Sie herrscht, und ich unterwerfe mich. Und doch ist sie meine liebste Schaufel. Ich hab mich gezwungen, sie zu mögen. Ich bin unterwürfig, weil sie ein besserer Herr zu mir ist, wenn ich gefügig bin und sie nicht hasse.“ Leopold hängt sich so stark an die Fluchtwörter, dass er ihnen auch nach der Entlassung nicht mehr entfliehen kann. Sie sind zur Identität geworden wie die Gegenstände, die ihn „ins Lager heimholen“ wollen. Der ursprünglichen Heimat nach all den Erfahrungen entfremdet, schlägt er sich geistig obdachlos mit Hilfsjobs durch, und flieht, in der Furcht frei zu sein, schließlich nach Österreich, „weil wir nichts mehr anfangen können mit dem Zuhause und das Zuhause nichts mehr mit uns.“

Was Atemschaukel zu so einem berührenden Erlebnis macht, ist unzwei­felhaft die poetische Genauigkeit Herta Müllers. Man riecht die Gerüche, man hört die Geräusche, und wichtiger: man fühlt die Gefühle. Herta Müller bricht den konventionellen Sprachkörper auf, bleibt aber bis ins letzte Wort präzise. Und doch hat sie in Atemschaukel ihre Poetizität zurück­geschraubt. Der geringeren Sprach­kompen­sation merkt man an, dass die Geschichte ange­eignet, und nicht am eigenen Leib erfahren werden musste. Es ist diesmal nicht die selbsterlebte Todesangst, die ihr die Sprache in den Roman treibt; doch ist und bleibt es Herta Müllers unverzichtbare unange­nehme Poesie, die nicht die Welt poetisiert, sondern durch ihren sehr eigenen Blick auf die Dinge das Poetische aus dieser Welt aufnimmt und heraus­kratzt. So wie das Lager Leopold Auberg für immer vereinnahmt, vereinnahmt Herta Müller den Leser. „Man kann sich nicht schützen, weder durchs Schweigen noch durchs Erzählen.“
Walter Fabian Schmid    05.09.2009   
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