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Carmo Neto
Ach! Jeremias Aus: Degravata Sobald die Glocke der Mission den Tag festlich einläutete, rasierte Jeremias sich und zog sich für die Arbeit an. So ging es, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Nie hatte er je ein anderes, weniger feuchtes Stück Land im Sinn gehabt, nie andere Orte aus Stahl. Für ihn gab es nur die Glocke der Mission, keine heiseren Hupen. Für ihn gab es jeden Tag aufs Neue die Vögel, die wohltuende Brise, die grünen, noch nicht vom Asphalt aufgefressenen Wege. In seiner Stadt in der Provinz waren die Wurzeln seiner Familie verzeichnet. Nichts bereitete ihm Sorgen. Fehlte einmal das Salz, der Nachbar von nebenan würde es ihm geben ohne zu murren. Die Zeit verging, und Jeremias zog in die große Stadt. Von sämtlichen Jungen, die bei ihm in die Lehre gegangen waren, hatte er sich verabschiedet. Er vergaß nicht, die erwachsenen Freunde zu umarmen. „Bleib so, wie du bist!“ sagten die, die wünschten, dass er bald wiederkam. Er hatte ein Leben geführt, wie es sich gehört. Es dauerte nicht lange, bis er sich an das enthusiastische Klima seiner neuen Stelle gewöhnt hatte, er leitete nun einen staatlichen Betrieb. Die Arbeitstage zähmte er mit seinem unverfälschten Lächeln und nahm sich bis zur Erschöpfung Zeit für die Lösung der Sorgen seiner Untergebenen. Die große Stadt hatte mehr Unzulänglichkeiten als der erste Ort seines Lebens. Noch nie hatte er so viele zerlumpte Menschen gesehen. Leblose, verwesende Katzen und Hunde. Er hatte auch nie je den Lack von so vielen Lügen auf der Haut der Menschen glänzen sehen. An den Straßenecken verkauften Kinder, die nichts als Haut und Knochen waren, den Menschen Träume. Jeremias aber blieb so, wie er war. Manchmal wurde er etwas gesprächiger, besonders wenn die Eisenbahn neben dem Betrieb vorbeiratterte. Dann reiste er in die Zeit seiner Kindheit zurück. Selbst die wachsenden Anforderungen der Kollegen konnten ihn nicht erschüttern. Er, der wortkarge, bescheiden gekleidete Mann mit dem vollen Haar und dem selten gestutzten Bart, behauptete, er glaube an bessere Zeiten. Noch erstaunlicher war, dass er sich trotz der Gemeinheit und Undankbarkeit seines Kollegen nicht aufregte. Nur als eine schielende Frau ihn aufforderte, ihr zwischen den Seiten eines Buchs von Lenin aufbewahrte Dollars abzukaufen, war er sichtlich konsterniert. Wie auch immer, nichts entband ihn von dem Traum von der Zukunft. Daher sein Spitzname Lenin. Fast alle Menschen ahnten, was Jeremias sagen würde, wenn er in den Himmel schaute. Ehe er sprach, trat wie durch Ansteckung ein Lächeln auf seine Lippen; an solchen Tagen trug er ein ähnliches Hemd wie alle Menschen in den goldenen Zeiten der Gleichheit überall in der großen Stadt und wiederholte mechanisch, er glaube an bessere Zeiten. Umso größer war sein Erstaunen, als er eines Tages erfuhr, dass er und andere Kollegen dem Betrieb nicht länger angehören würden, da er privatisiert worden war. Da stieg er rasch die Treppen hoch. Bevor er die Schlüssel abgab, fand er noch Zeit, Blatt für Blatt seinen Ordner voller Auszeichnungen durchzusehen, während vor seinem Fenster die Kinder herumtollten, bis er eines Tages auf der Straße saß. Seine Freunde sagten zu dem Lauf der Ereignisse, das komme von seinem schlechten Gewissen, weil er sich unrechtmäßig die Taschen vollgestopft habe, aber erst, als sie den Mann zerlumpt, schmutzig und ungekämmt herumlaufen sahen, fanden sie heraus, dass Jeremias sich schon vor langer Zeit angewöhnt hatte, im Laden seines Vaters Geld zu wiegen. Und obwohl schon in den Vierzigern, war er noch immer von seiner Mama abhängig. Es fehlte nur noch, dass er Windeln und Lätzchen verlangte. Die Leute tratschten über Jeremias‘ Schicksal wie ein aufgescheuchter Hühnerstall. Niemand wusste genau, ob er Sieger oder Besiegter des Lebens nach dem Businessmodell war. Noch wurde sein Geisteszustand in Zweifel gezogen. In Wirklichkeit aber hatte er seine Familie und die Anteilnahme seiner Freunde und Nachbarn schon verloren. Als traumhungriger Mann tastete er sich durch die Straßen der großen Stadt. Ein Mann des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts, ziellos, Nachhilfelehrer von Ärzten, Ingenieuren, Lehrern und Rechtsanwälten dieser neuen Generation. Und ich, der ich zuweilen ein paar Tränen der Rührung verdrücke, rufe aus: „Ach, Jeremias, Herr General, die Menschen haben ein kurzes Gedächtnis!“ Mahézu, Ngana! Übersetzung: Barbara Mesquita 22.09.2012 |
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