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Roderick Nehone
Hinter der Kohle her EINS Also, ich möchte mich lieber nicht mehr länger für den Staat abrackern! Und bitte dich schon im Voraus um Entschuldigung für den Jargon, in den ich manchmal verfalle, aber genau so, frei nach Schnauze, werde ich dir die Geschichte erzählen. Weißt du, es ging einfach nicht mehr. Immer das gleiche Gehalt. Das ewig auf sich warten ließ, bis es kam. Zu Hause immer mehr hungrige Mäuler zu stopfen, das fortschreitende Alter, die Krankheiten, die sich mit ihm einstellen, keine Kohle für eine anständige Behandlung, um von den Medikamenten ganz zu schweigen, nicht mal Mäuse fürs Sammeltaxi. Verdammt, da habe ich beschlossen, dem Staat den Rücken zu kehren und mein ganzes Know how auf eigene Faust zu nutzen. Heute ist mein erster Arbeitstag in der Parallelwirtschaft! An diesem Montag bin ich an der Tür des Gebäudes, in dem ich fünfundzwanzig Jahre lang gearbeitet habe, vorbeigegangen. Es waren wirklich fünfundzwanzig Jahre harter Maloche, früh da sein, das Anwesenheitsbuch unterschreiben, die von meinen Bürokollegen schon ordentlich zusammengestellten Unterlagen einpacken, mich auf mein Dienstmoped setzen und die Papiere in der Stadt verteilen. Ich bin immer Bote gewesen, weißt du?! Ein guter Bote, mit mehreren Verdiensturkunden und anerkennenden Worten von der ganzen Bagage. Nie ist mir beim Verteilen der Post ein Fehler unterlaufen. Ich kenne in dieser Stadt sämtliche Ministerien, Einrichtungen und öffentlichen Unternehmen, egal ob groß oder klein. Ich kenne die Geschäftsstellen aller großen Institutionen. Mir sind auch viele Privatfirmen vertraut, von denen einige bereits pleite gegangen und durch neue ersetzt worden sind, die noch auf wackligen Beinen stehen, aber schon in meinem Gedächtnis registriert sind. Ich kenne diese Stadt wie meine Westentasche! Wenn ich mir dieses alte Gebäude im Kolonialstil so anschaue und diese Stufen sehen, die ich zweieinhalb Jahrzehnte lang mit meinen Schuhsohlen ausgetreten habe, überkommt mich tatsächlich ein Anflug von Wehmut, das will ich gar nicht leugnen, obwohl ich gerade eben erst, nämlich heute, beschlossen habe, hier, vor diesem Treppenaufgang, zu stoppen. Ich werde nicht hineingehen! Eine Kraft in mir sagt: Nun hab dich nicht so und geh rein, Junge! Willst du hier einen auf besonders schlau machen oder was? Jetzt geh schon rein! Sie haben dein Fleisch gegessen, nun sollen sie auch die Knochen abnagen, verdammt noch mal! Geh rein, denn dort drinnen und nirgendwo anders wirst du dein Arbeitsleben beschließen. Dort drinnen wirst du deine Rente bekommen, du Esel! Der Staat zahlt zwar wenig, aber er zahlt immer! Der Staat geht nicht pleite, Alter, der Staat gehört uns, und er ist immer da, er ist unsere Versicherung, unser Schutz, solange wir hier sind. Wir sind der Staat! Wir sind seine Stütze, Nazaré! Und jetzt, wo du die vierzig schon überschritten hast, willst du dem öffentlichen Dienst den Rücken kehren? Willst dich ins Nichts stürzen, alles verlieren, was du in die Rente eingezahlt hast, jetzt, wo dir in der Privatwirtschaft keiner mehr eine Stelle geben wird? Hast du dir die Anzeigen im Jornal de Angola schon mal richtig durchgelesen? Sie stellen niemanden ein, der älter ist als fünfunddreißig! Und du in deinem Alter mit deinem Beruf, Botenfahrer, dicke Brillengläser, ständig zitternde Hände vom Saufen, mit einem Flattermann wie einer, der Zimt auf Kuchen siebt. Wer wohl in dieser vom Verkehrsstau geknebelten Stadt soll dir einen Job als Botenfahrer geben? Die hartnäckige Stimme provoziert mich. Sie will mich in meiner Entscheidung beugen, aber ich habe schon beschlossen, dass ich bloß vorbeigehen werde an dem Gebäude. Hineingehen werde ich nicht! Ich bin wirklich nur gekommen, um mich zu verabschieden, um seine Fassade anzuschauen, die schöne Architektur, und wenn ich eines Tages wieder dort hineingehen sollte, dann nur bei meiner Arbeit als Privatmann. Während all dieser Jahre habe ich viele Leute kennengelernt. Nicht nur Berufskollegen, Botenfahrer wie ich. Ich habe auch eine Menge viel bedeutenderer Leute kennengelernt. Sekretärinnen und Abteilungsleiter, Referatsleiter und höhere Fachbeamte. Ich habe mit mittleren Fachbeamten und sogar mit Direktoren zu tun gehabt. Habe schon Ministern und ihren Nachfolgern Aktentaschen gebracht. Viele Ernannte und auch die Entlassenen sind an mir vorübergezogen. Ich habe sie lächelnd kommen und kleinlaut auch wieder verschwinden sehen. Von Berufs wegen bin ich ein Mann mit vielfältigen Kontakten, jemand, der stets sehnlich erwartet wird. Und das sage ich keineswegs aus Angeberei! Ich war Träger von Glück und Unglück, habe in meiner Aktentasche Ernennungen und Amtsenthebungen transportiert, Beförderungen und Abstürze, offizielle Dokumente, viele davon vertraulich, amtliche Schreiben jeder Art und unterschiedlich schwerwiegend, unverständliche Memoranden und sogar Flugtickets. Wie eine Meisterspinne (eine Imitation der berühmten Biene in ihrem Bienenstock) habe ich lange Jahre über ein unsichtbares, weitläufiges Netz voller Nebennetze und mit vielen Knoten unterhalten und zwischen den zahlreichen Empfängern eine Kette von Nachrichten zirkulieren lassen, die die Menschen und ihre Institutionen mit Leben erfüllt haben. Aus diesem und vielen anderen Gründen, die ihr euch ausmalen könnt, bin ich, so empfinde ich es, ein wichtiger Mann, und ihr braucht euch nicht zu wundern, dass das so ist, trotz der scheinbaren Bedeutungslosigkeit meines Berufs als Botenfahrer. Ich war nicht irgendein Bote! Ich habe eine Menge gelernt! Ich bin ein wichtiger Mann, ich wiederhole es, ein Mann, der hier draußen weiter von diesem Netzwerk leben kann, das er wie seine Westentasche kennt. Im Grunde genommen ist es dieses Gefühl, das mich von dieser Tür forttreibt, unter deren Bogen ich fünfundzwanzig Jahre lang hindurch gegangen bin. Und indem ich dies sage, bin ich tatsächlich dabei, mich von dem Ort zu entfernen, an dem ich bis zum vergangenen Freitag gearbeitet habe. ZWEI Gut möglich, dass es erworbene Rechte gibt. Diesen Ausdruck hört man ja häufig im Radio oder liest ihn in der Zeitung. Auch die Gewerkschaftler benutzen ihn gerne, wenn sie fordern, was ihnen ihrer Meinung nach zusteht. Ich verwende ihn ganz opportunistisch, so dass ich nicht einmal weiß, ob ich ihn im herkömmlichen Sinn gebrauche. Aber mir reicht tatsächlich der Sinn, den ich ihm gebe. Was ich sagen will: Nachdem ich so lange Zeit beim Staat gewesen bin, will jeder Abschied mit dem Ziel, ein Leben mit oder ohne Chef auszuprobieren, gut organisiert sein. Unter Wahrung mancher Rechte, denn das Dienstalter ist gewissermaßen ein Amt. Man kann nicht einfach verschwinden wie ein ertappter Dieb auf der Flucht und überstürzt und planlos den Rückzug antreten, unterwegs seine Siebensachen vergessen, das Baby mit dem Hund verwechseln, sich irgendetwas auf den Rücken binden, das wie ein Lebewesen aussieht und dann, wenn die Gefahr bereits weit hinter einem liegt, feststellen, dass der jüngste Sohn zurück geblieben ist und wir den Vierbeiner mitgenommen haben. Das ist manchen Leuten aus Cassenda im Jahr 1992 tatsächlich so passiert, als die, die am Abzug saßen, das Munitionslager der Luftwaffe hochgehen ließen. Da hieß es zusammenraffen, was in greifbarer Nähe war und panisch die Beine in die Hand nehmen! Folge unserer langjährigen Erfahrung mit dem Räuberunwesen ist, dass wir Rückzugsmethoden gelernt haben und beherrschen. Das Leben hier in Luanda hat sie uns gelehrt, und danach sind im Voraus angekündigte Rückzüge zu vermeiden. Sonst versperrt einem noch jemand den Weg! Man soll vor lauter Verwirrung auch nicht durchblicken lassen, welchen Weg oder welche Gasse man auf dem Rückzug einschlagen oder welches Ziel man ansteuern wird. Man muss täuschen, nach rechts blinken und nach links abbiegen, wie einer unserer alten Führer immer sagte. Behaupten, es werde in zehn Monaten sein, dabei fehlen in Wirklichkeit nur noch drei, bis es so weit ist. Kurz gesagt: den Feind überlisten! Der Feind kommt inzwischen schon nicht mehr so kriegswütig daher, Feind muss auch nicht unbedingt mehr nur der sein, der auf der anderen Seite der Barrikade steht und die Waffe auf einen gerichtet hat. Den Begriff Feind habe ich hier nur aus schlechter Angewohnheit heraus gewählt, weil es so lange dauert, bis man wegkommt. Feinde sind hier all jene, die nicht wissen sollen, was ich vorhabe, verstehst du? Alle, die querschießen würden, wenn sie wüssten, was passieren wird. Alle Schwafler. Alle Tratschmäuler, die bloß etwas sehen oder von etwas hören müssen, um es ebenfalls haben zu wollen. Und du weißt ja, es gibt im Leben nicht alles für alle. Die Dinge reichen nie für alle. Irgendwem wird es immer an irgendetwas fehlen. So sehr man sich auch um eine gerechte Verteilung bemühen mag, es wird immer einen geben, der nicht aus der Hand gibt, was er dem nächsten weiterreichen sollte. Es gibt immer einen, der Hunger für zwei hat. Eine kleine Unaufmerksamkeit oder ein klein bisschen zu viel Freiheit, die man ihm lässt, und Zábuas! Genau, ein neues Wort: Zábuas! Schon ist das, was dem anderen gehörte, abgezockt, verschluckt, verprasst, hat sich ein für alle Mal in Luft aufgelöst, und es gibt kein Fundamt, bei dem man sich beschweren könnte. Deshalb geht es nicht, dass alle das Gleiche zur gleichen Zeit haben wollen. Es geht nicht, dass alle gleichzeitig dieselbe Sache verlangen. Und wenn das doch passiert, wird damit Machenschaften Tür und Tor geöffnet. Aus: O Catador de bufunfa, 2011. 05.04.2013 |
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