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Zetho Cunha Gonçalves
  Pitangas – Literatur aus Angola


In der Hand von Hölle und Tod
oder die haarsträubende Geschichte von Pedro Francisco,
Überlebender sämtlicher Kämpfe um die Stadt Huambo,
in Friedenszeiten von ihm selbst erzählt


Ratten und Mauereidechsen mit der Zwille jagen, wer glaubt das schon?
Ich suchte nach Kratern. Eine Bombe fällt nicht in das Loch, in dem schon eine andere Bombe explodiert ist. Das lernt man, wenn man überlebt hat und auf sein Leben aufpasst.
Sterben – wer will schon sterben oder aus Versehen getötet werden?
Also lief ich schnur­stracks dorthin, wo gerade eine Haubitze hochgegangen war. Manchmal eine Rakete nach der anderen – Stunden und Tode lang.
Sint­flut­artig regnete es Bomben. Kampf­panzer kamen und fuhren pausenlos schießend in die Trümmer der Stadt hinein, in einem Wettstreit um Besitz und Raum. Maschinen­gewehr­salven, Schüsse aus Kanonen, Mörsern, Bazookas. In der Hand von Hölle und Tod.
Der Himmel verschwand aus dem Morgenblau, verfins­terte sich. Und es war die Erde, die als Fontäne austrat aus der Erde, ausgespuckt aus dem Innersten. Mit ihren Steinen, ihren Bäumen, mit Stumpf und Stiel. Eisen­stücke der Bomben­ge­häuse und der getrof­fenen Panzer. Alles flog durch die Luft, wie Lava aus einem gewaltigen Vulkan. Aus Hunderten, Tausenden von Vulkanen, die alle zur gleichen Zeit aus­brachen – einer Zeit, die nicht zum Atmen war und ohne Maß.
Blut von Mensch und Tier. Häuserdächer, Wände, Überreste von Türen und Fens­tern. Körper­teile, Eingeweide, abgetrennte Arme und Beine – all das fiel einem anschließend auf den Kopf. All das regnete auf die Toten nieder – und kein Toter war ein unver­sehrter, wieder­erkenn­barer Toter. Nur ver­sprengte Teile ihrer eigenen Seelen.
Sich im Krieg zu befinden und vor dem Krieg zu fliehen heißt allein sein und sich allein fühlen. Niemand kann die Familie mitnehmen. Niemand kann mit seiner Familie fliehen.
Wohin denn? Zu welcher Stunde?
Im Krieg ist es vorbei mit der Familie. Im Krieg ist nur das Schicksal deine Familie. Das Schicksal jedes Einzelnen, allein, auf der Flucht nach Nirgend­wo. Oder man bleibt, wo man ist, an einem Ort, der nicht existiert.
Liegend grub ich mich ein. Die Erde war warm vom Donner­prall des Todes. Die zer­ris­senen Taschen der zerlumpten Kleidung voller Steine für die Zwille. Ein Stock, um in der Erde zu graben, eine Liege­statt am Boden der Krater zu bauen, als sei es bereits mein Grab.
Ich wollte beerdigt werden, wenn ich starb. Wenn sie mich töteten. Ja, das wollte ich. Es fiel mir schwer zu akzep­tieren, von einem Jaguar verzehrt zu werden, von einem Löwen, einer Hyäne oder den Scha­kalen, die nun des Nachts in die Stadt kamen, um unsere Toten zu fressen. Unsere Toten, denen die Bomben und der Krieg eine Bestattung versagten.
Die Menschen schauten wie gebannt auf das Fleisch dieser Toten und fragten?
„Haben Sie schon einmal Menschenfleisch gegessen?“
Und es sammelte sich ihnen der Speichel. Ich schwöre es. Das Wasser lief ihnen im Munde zusammen.
Ich habe gesehen, wie Hunde ihre ehe­maligen Besitzern auffraßen – Männer, Frauen und Kinder, mit denen sie früher gespielt und die ihnen Futter gegeben hatten, nährten sie nun von ihrem Fleisch. Ich habe es gesehen.
Glaubt das jemand?
In diesem Krieg sind nur die Hunde fett geworden. Und wenn man nicht mehr kann und einem unverhofft so ein Hund über den Weg läuft, tötet man ihn. Und isst ihn.
Verschlingt ihn!
Ich habe schon Menschen sterben sehen, ohne etwas tun und sie retten zu können, weil sie nicht einmal mehr die Kraft hatten, ein Feuer anzuzünden und abzu­warten, bis ein Stück Hund gekocht oder gebraten war. Und ich habe schon Leute gesehen, die gänzlich rohes Fleisch von Hunden, Ratten, Mauer­ei­dechsen ohne irgend­etwas gegessen haben. Ich selbst habe es schon getan.
Salz, um das Fleisch ein bisschen zu würzen? Das ist ein Luxus, von dem man nicht einmal träumen kann. Kein Salz, und oft genug auch kein Wasser zum Trinken oder um etwas Gras zu kochen.
„Mit dem Fleisch der Hunde, das jetzt unsere einzige Nahrung geworden ist, essen wir das Fleisch unser Ver­wandten und Freunde und Familienangehörigen“, habe ich einmal zu meiner ver­stor­benen Frau gesagt.
Nach den Bomben fliegen nicht einmal mehr Vögel an diesem Himmel. Nicht einmal Vögel. Dieser Krieg hat ihnen auch die Bäume geraubt, sich nieder­zusetzen und Nester zu bauen. Und sie haben hier kein Futter – kein Samenkorn auf dieser verbrannten Erde, keine Frucht. Nur manchmal Geier und Milane auf den Leichen. Nur sie, die noch nicht einmal Vögel sind.
Katzen? Das ist Fleisch, das wir schon seit langer Zeit nicht mehr gekostet haben. Seit vielen Jahren nicht, um ganz genau zu sein.
Und sogar Ratten, glänzende, zufriedene Ratten, die aus den Trümmern und den Kratern heraus­gerannt kamen, die wir mit der Zwille abschossen und die uns ein paar Proteine ver­schaff­ten, auch sie sind vor unseren aufge­blähten, unter­ernähr­ten Bäuchen ins Exil gegangen.
Fleisch von Schlangen, Kröten, Mauer­eidechsen? Eben­falls sehr wenig. Fast keins. Genau wie Grillen und Heu­schrecken – sie selbst: Kriegs­flücht­linge.
Eines Tages habe ich auf meiner Grab­matratze liegend in der Tiefe des noch von den letzten Bomben rauchenden Kraters eine Boa vorbei­kommen sehen. Sie kroch in zwei oder drei Metern Ent­fernung an mir vorüber, und ich ohne Messer und ohne Machete: Nur mit einem Stock, einem Knüppel, um in der Erde zu graben.
Und der stets zum Schießen gespannten Zwille.
Ich glaubte, meine letzte miese Stunde hätte geschlagen.
Ich vergaß die Bomben, die Maschinen­gewehr­salven, die Kanonen­schüsse und die Panzer, die alle gleich­zeitig feuerten und nieder­gingen, sprang mit einem Satz hoch und zielte mit der Zwille auf den Kopf der Boa.
Ich merkte, sie war ebenso hungrig wie ich, genau richtig, um getötet und mit Haut und Haar verspeist zu werden.
Sie oder ich, dachte ich.
Aber zum Henker, lebendig von einer Boa verschlungen zu werden, nachdem es mir fast zwanzig Jahre lang gelungen war, den Krieg zu überleben und die gesamte Familie tot oder geflohen war, eine Familie, die wer weiß wo ver­schol­len war?!
„Nein“, schrie ich aus Leibes­kräften allen Bomben und der geballten Angst vor dem Tod entgegen. „Du verfluchtes Mistvieh, ich bringe dich um! Ich lasse mich nicht von einer Boa ver­schlucken, ich werde nicht sterben, verdammt noch mal!“
Und schoss mit dem Rest sämt­licher mir noch ver­blie­bener Kräfte den Stein aus meiner Zwille in Richtung ihres Kopfs.
Bis heute weiß ich nicht, ob es der Stein war, der sie getroffen und in die Flucht geschlagen hat oder ob es meine wahn­sin­nigen Schreie und ewegungen waren, die sie erschreckt haben. Ich weiß nur, dass sie mir entwischt und ver­schwun­den ist, um sich mit irgend­einem Toten den Bauch voll­zustopfen, in der Nähe der Stelle, wo sie selig verdauend gefunden wurde.
Irgend­jemand tötete sie mit einem Schlag auf den Kopf. Dann wurde sie der Länge nach rücklings auf den Boden gelegt, vom Kopf bis zur Schwanzspitze aufge­schlitzt, um den Toten, den sie verdaute, aus ihrem Bauch herauszuholen, und am Ende so verspeist, so wie es sich gehört, mit krosser Haut und allen Schikanen, bei einem der glanz­vollsten Grillfeste jener verfluchten Zeiten.

Aus dem Portu­giesischen übersetzt von Barbara Mesquita
Original aus: Conversas de homens no conto angolano. Breve antologia. 1980/2010. António Quino (org.). Luanda: UEA 2011: 109-113.

    21.03.2012



 
 

    Zetho Cunha Gonçalves
       Einleitung
    
Ineke Phaf-Rheinberger
  01   Agostinho Neto
     Sim em qualquer poema
     Ja in jedem Gedicht
  02   Zetho Cunha Gonçalves
     O inferno e a morte ...
     In der Hand von Hölle und Tod
  03   Sónia Gomes
     A Filha do General
     Die Tochter des Generals
  04   José Luís Mendonça
     O resto é poesia
     Der Rest ist Poesie
      António Gonçalves
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     Roter Lehm der Erde
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