|
|
Der Vogel, die Sprache, der Mensch
Laudatio auf Elke Erb
Von Oleg Jurjew
Preis der Literaturhäuser 2011 (Laudatio III) |
|
Foto: poetenladen |
; |
Kommt Elke Erb zu Besuch – was eigentlich bedeutet: zum Arbeiten, denn das Arbeiten ist die Grundform ihrer Existenz und auch die Grundform jeglicher Kommunikation mit ihr – kommt auch die ganze deutsche Sprache mit.
Das ist keine gestelzte Personifikation, obwohl ich in diesem Falle auch solche nicht scheuen würde, sondern hier meinte ich es vollkommen sachlich: Kommt Elke bei uns, bei Olga Martynova und mir, in unserer Wohnung mit Blick über die Mauer des Frankfurter Zoos für ein paar Tage vorbei, beginnt das „Arbeiten“ beinahe sofort. Man spricht eine Stelle in einem Gedicht an, eine kleine Übersetzung will geprüft werden, ein neuer Text gelesen und besprochen und vielleicht geändert sein. Etwas macht „klick“, und Elke ist eingeschaltet, sie arbeitet, und bei ihr bedeutet das: Sie berät sich ununterbrochen und unermüdlich mit der gesamten deutschen Sprache. Dieser Prozess ist überwiegend mündlich. Elke spricht mit der Sprache. Das hören wir aus ihrem Zimmer, aus dem Flur, aus dem Badezimmer ... Die Sprache antwortet. Das können wir später lesen.
Jeder, der einmal mit der arbeitenden Elke Erb in einem Raum eingeschlossen war, weiß: Sich in einem Raum mit der arbeitenden Elke Erb zu befinden, ist wie mit einem kleinen, leisen, unermüdlich zwitschernden, wispernden, klappernden – schlagenden! – Vogel in einem Raum eingeschlossen zu sein. Jedes in Frage kommende Wort, jede Phrase, jede Zeile wird in den Mund genommen, in allen möglichen Tonlagen wieder und wieder wiederholt – mündlich geprüft. Bis eine richtige Lautfolge, eine richtige Intonation, ein richtiger Rhythmus da ist. Bis die Sprache ihr OK gibt. Oder bis Elke sagt: Sprache, du bist blöd. Das ist besser so, wie ich es dir sage!
Seit ich Elke kenne, glaube ich nicht mehr, daß die wirklichen Vögel da in den Bäumen einfach so „singen“, um ihre überschäumende Lebensfreude mitzuteilen (romantische Version, war noch nie meine Sache), oder um fioriturenbegierige Fräuleinvögel anzulocken (die Version meiner Leningrader Biologie-Lehrerin Lenina Fjodorowna). Jetzt höre ich: Vögel arbeiten da in den Bäumen des Frankfurter Zoos. Sie beraten sich mit ihrer Vogelsprache – oder mit ihren Vogelsprachen; sie prüfen ihre Texte, wieder und wieder, ohne Ermüdung, ohne Verzweiflung.
... Seit ich Elke Erb kenne ... Und seit wann kenne ich Elke?
Das ist keine zu komplizierte Frage, der Weg unserer Freundschaft ist durch Bücher gekennzeichnet, wie der Weg eines Trecks in der Steppe durch Skelette gegessener Kühe, und Bücher haben bekanntlich Erscheinungsjahrangaben.
1995 konnte Christian Pixis, der gerade dabei war, einen vielversprechenden Verlag aufzumachen, Elke überreden, meinen „sechseckigen Roman“ „Der Frankfurter Stier“ in Übersetzung zu nehmen. Elke ließ sich überreden, weil sie – ihren späteren Worten nach – habe wissen wollen, was „diese Russen“ so schrieben, und das Übersetzen sei immer noch die gründlichste Form des Lesens. Das kenne ich all zu gut: Um in meiner Jugend „Four Quartets“ von T. S. Eliot zu lesen (was nötig war, um zu sehen, was diese Engländer da so schrieben) musste ich das halbe Wunderwerk ins Russische übertragen. Gottseidank ist diese Nachdichtung im Wirrwarr der Geschichte verloren gegangen. Gottseidank sind Elkes Übersetzungen alle erhalten. „Der Frankfurter Stier“ ist 1996 erschienen.
So begann es, und jetzt, mehr als fünfzehn Jahre und vier dicke Bücher später, kann ich das gestehen, was Du, liebe Elke, wahrscheinlich inzwischen längst gemerkt hast: Du hast nicht viel über „diese Russen“ erfahren, indem Du meine Bücher übersetztest, nur über mich. Und ich war auch damals, Mitte der Neunziger, nicht besonders typisch für das, was sie da schrieben. Heute bin ich es noch weniger. Du wolltest die neue russische Literatur kennen lernen und hast Olga und mich kennen gelernt, die wir selbstverständlich in einem gewissen Sinne eine kleine, aber ganze russische Literatur, eine ganz eigene, darstellen, bei uns in der Wohnung mit Blick über die Mauer des Frankfurter Zoos. Und wir dachten, wir lernen eine wunderbare Lyrikerin und eine wunderbare Übersetzerin kennen, lernten zusätzlich jedoch die ganze deutsche Dichtersprache kennen, in Person sozusagen, als unsichtbare, aber gut hörbare Person, die immer mit Elke unterwegs ist, um mit ihr bei Bedarf sprechen und streiten zu können.
Es war nie leicht, mit Elke zu arbeiten, vor allem am Anfang. Elke ist stur, ich bin es auch. Ab und zu flogen die Fetzen! Vielleicht waren das die Fetzen der Sprache, oder zweier Sprachen sogar – der russischen und der deutschen; sie schwebten in der Luft und wollten sich zu einem Ganzen verknüpfen. Ich hoffe, das ist ihnen gelungen, auf jeden Fall beneide ich mich selber als jemanden, dessen Texte ins Deutsche von Elke Erb und Olga Martynova übersetzt wurden, ich bin bestimmt der am besten übersetzte Autor der Welt, wenn es ums Deutsche geht. Darüber, wie man mit Elke Erb zusammen übersetzt, oder wie man von Elke Erb übersetzt wird, könnte ich sehr lange und sehr abenteuerreich erzählen. Vielleicht mache ich das bei einer anderen, passenderen Gelegenheit, zum Beispiel, wenn Elke endlich einmal einen Übersetzerpreis bekommt. Ist es eigentlich nicht erstaunlich und irreführend, und auch ungerecht, meine Damen und Herren, dass es unter den vielen Literaturpreisen, die sie bekommen hat, keinen einzigen für Übersetzung gibt!? Erlauben sie mir, das ganz direkt zu sagen: Ich finde es skandalös!
Den heutigen wunderbaren Preis bekommt Elke Erb also nicht für ihre Übersetzungen – das ist der Preis der Gemeinschaft der Literaturhäuser und damit der ganzen Literaturgemeinschaft des deutschen Sprachraums, des ganzen fahrenden Volkes, das von Greifswald bis nach Bozen und von Bremerhaven bis nach Klagenfurt fliegt und fährt in den Bäuchen silbriger, zur Verspätung neigender Lindwürmer, mit Flügeln und ohne, um die Menschen und sich selbst mit dem gesprochenen, gezwitscherten, gewisperten Wort zu erfreuen und sie daran zu erinnern, dass nicht nur die Vögel in den Bäumen des Frankfurter Zoos ein Anrecht auf Dichtung haben, sondern auch wir ...
Sprechen wir deshalb über die Lyrik.
Kann man überhaupt über das lyrische Gesamtwerk Elke Erbs sprechen, wie es der gemeine Germanist ausgedrückt hätte? Jetzt, in einer kleinen Laudatio, die wie jede anständige Laudatio nur allzu gut weiß, dass ihre Höflichkeit die Kürze ist? Besonders wenn wir über eine Dichterin sprechen, die sich seit fünf Jahrzehnten ununterbrochen und unermüdlich mit der Sprache berät?
Wenn ich das Allgemeinste und Kürzeste über diese fünf Jahrzehnte „des Arbeitens“ sagen müßte, wäre das Folgendes: Es war und bleibt ein unermüdlicher und ununterbrochener Prozess des Selbstbeobachtens, -begreifens und -artikulierens, in dem Elke Erb ihre, die ihr gegebene Sprache immer weiter verfeinert, schleift und spitzt, als ein Werkzeug, als ein Skalpell beispielsweise, mit dessen Hilfe sie sich selbst seziert, jede Bewegung ihrer eigenen Wahrnehmung festhält, jedes Gefühl, jeden Gedanken. Von Anfang an, ab den frühesten Büchern kann man diese Selbsterforschung verfolgen, die keine Details, Färbungen, Untertöne, und seien es auch nur die kleinsten, einer äußeren Räson, zum Beispiel jeglichem Formzwang, opfern will oder kann. Unter anderem deshalb kommen die berühmten erbschen Kommentare und Kommentare zu Kommentaren zur Entfaltung, die zum Bestandteil des poetischen Textes wurden: Jede genau festgehaltene Regung will noch weiter erklärt, präzisiert, unter einem anderen Blickwinkel gesehen werden. Die Geschichte des Schreibens bei Elke Erb war immer eine Geschichte des Selbstbegreifens und der Selbstkommentierung. Und weil ich kaum eine andere Person kenne, die sich so oft und so grundlegend geändert hat, wie Elke Erb es im Laufe der anderthalb Jahrzehnte tat, die wir uns kennen, mußte das Feld für dieses Verfahren immer vorhanden sein, immer unerschöpflich, immer neu. Mußte und muß. Wahrscheinlich hängt das auch damit zusammen, dass etwas Genanntes, besonders wenn es so genau genannt wird und so ausführlich kommentiert, nicht weiter so existieren kann – es muß sich ändern; so wird bei einem Dichter eine beschleunigte Selbsterneuerung provoziert.
Unter diesen vielen Selbsterneuerungen gab es allerdings einen Moment, wo Elke Erb nicht nur sich änderte, sondern ihr lyrisches Verfahren umkehrte, um nicht zu sagen umstülpte, wo sie eine lyrische Konterrevolution beging, deren Ergebnisse sich noch in der Geschichte der deutschen Lyrik zeigen werden. Ich spreche jetzt über „Sonanz“, für meine Begriffe eines der bedeutendsten Lyrikbücher der deutschen Sprache.
Jeder weiß heute, wie „Sonanz“ entstand. Über ihre 5-Minuten-Notate sprach Elke Erb oft, und manchmal, zum Beispiel in der Vorbemerkung zu „Sonanz“, ziemlich ausführlich. Aber ich möchte das jetzt ganz einfach, ganz technisch haben: „... automatisch aus mir heraus gelockt worden. Fast jeden Tag. Kein Thema, nur ein Datum. Keine Vorgabe am besten. Keine Idee vorher, was du schreiben wirst...“ – das hier habe ich im Schweizer Radio gehört.
Über das altgediente Verfahren des auto&matischen Schreibens sagt sehr trefflich eine russische Literaturwissenschaftlerin, die Oberiuten-Spezialistin Anna Gerassimowa: Das automatische Schreiben ist nicht so einfach, wie es scheint. Es setzt das Vertrauen in die eigene innere Stimme voraus, die Fähigkeit, diese Stimme ehrlich, ohne Beschönigung und ohne besondere Verluste und Verzerrungen zu fixieren, und – die Hauptsache! – es setzt eine Bedeutsamkeit dessen voraus, was hinter der inneren Stimme steht. Wenn diese dritte Voraussetzung nicht erfüllt wird, wird das Ergebnis des freiesten und authentischsten automatischen Schreibens für niemanden interessant, vielleicht mit Ausnahme eines Psychiaters.
Ich sehe eine gewisse Ironie darin, dass Elke Erb in ihrem ewigen Streben nach Verfeinerung, zwecks Erkundung ihres Selbst, ihres Instruments, der Sprache, eine Umkehr – anfangs, vermute ich, unbewusst – vorgenommen hat. In „Sonanz“ hat sie, durch die Anwendung dieses Verfahrens, nicht mehr die Sprache gespitzt und geschliffen, sondern sich selbst „instrumentalisiert“. Entsprechend erreichte sie, wie sich herausstellte, statt des eigenen Unterbewusstseins das Unterbewusstsein der Sprache (die Sprache, und wahrscheinlich auch die Elke, hat nichts Unbewusstes in sich, nur diese immer zu erweiternde Schicht unter dem Bewussten und Definierten, deshalb nehme ich dieses von den Freudianern ungeliebte Wort). Also, zum Werkzeug, zum Skalpell wurde in „Sonanz“ das Ich der Autorin, und die Sprache wurde zu demjenigen, dessen Unterbewusstsein erkundet wird, seziert und stimuliert, auch durchs Stechen. Und am Ende sich artikulieren darf.
Und was sehen wir in „Sonanz“, welche Erkenntnisse brachte uns dieses Buch? Sehr viele, ich kann sie nicht alle auflisten! Eines der wichtigsten: Das Unterbewusstsein der Sprache ist voll von kristallographischen Strukturen, von metrischen, strophischen und reimischen Elementen, von Spuren der Kultur- und Literaturgeschichte. Ich unterstreiche: von Elementen, nicht von fertigen Sachen! In keinem anderen von Elke Erbs Büchern erinnern ihre Gedichte stellenweise so an „Gedichte“, nirgendwo sonst in ihren Texten singt sie von Zeit zu Zeit so harmonisch und bitterlich. Was für eine Ehrlichkeit, oder sagen wir besser: Fairness wurde von einer Autorin verlangt, die fünf Jahrzehnte lang alles „Künstliche“, alles „Kulturkonservative“, alles „Singende“, alles „Literarische“, was in Bezug auf die Lyrik alles „Verstechnische“ bedeutet, kurz gesagt, alles „Persönlichkeitsfremde“ wegräumte, um die maximale persönliche Authentizität ihrer Texte zu erreichen, und jetzt, beim Bearbeiten, beim Nachfeilen ihrer 5-Minuten-Notate, diese Elemente nicht nur „so lassen“, sondern auch deutlicher, klarer, präziser, ausgeprägter machen musste!
Dieses umgekehrte Kommunizieren mit der Sprache stelle ich mir nicht einfach vor. Elke ist stur, und die Sprache ist giftig:
Sprache, du bist blöd, sagt Elke. – Recht hast Du, sagt die Sprache. Du hast mir eins meiner größten Geheimnisse entlockt: Ich bin blöd, und das ist das Schönste an mir!
„Sonanz“ zeigt in ungeheurem Ausmaß, was für ein ungeheures Potenzial das „Verskonservative“ in der deutschen Sprache, der deutschen Lyrik immer noch hat. Was für Möglichkeiten noch vorhanden sind, die im Unterbewusstsein der Sprache konserviert waren und nach Ausleben verlangen. Die Auswirkung dieser Tatsache wird sich noch zeigen bei den kommenden Generationen, und vielleicht wird dieses Buch noch als eines der einflussreichsten, schicksalsträchtigsten Lyrikbücher der deutschen Literaturgeschichte geführt werden.
| | Elke Erb
Meins
Hrsg. von Christian Filips
roughbook 006; 2010
11 EUR
Elke Erb
Deins.
31 Reaktionen auf Elke Erb
Hrsg. von Urs Engeler u. Christian Filips
roughbook 013; 2011
10 Euro
|
Oleg Jurjew 30.05.2011 / 06.06.2011 |
|
|
|
Elke Erb
Poetics
Laudatio
Lyrik
|
|