poeten | loslesen | gegenlesen | kritik | tendenz | news | links | info | verlag | poet |
Elke Erbs Poetics 21
Still Walter Höllerer (1922 Sulzbach-Rosenberg, 2003 Berlin) Der lag besonders mühelos am Rand Der lag besonders mühelos am Rand Des Weges. Seine Wimpern hingen Schwer und zufrieden in die Augenschatten. Man hätte meinen können, daß er schliefe. Aber sein Rücken war (wir trugen ihn, Den Schweren, etwas abseits, denn er störte sehr Kolonnen, die sich drängten) dieser Rücken War nur ein roter Lappen, weiter nichts. Und seine Hand (wir konnten dann den Witz Nicht oft erzählen, beide haben wir Ihn schnell vergessen) hatte, wie ein Schwert, Den hartgefrorenen Pferdemist gefaßt, Den Apfel, gelb und starr, Als wär es Erde oder auch ein Arm Oder ein Kreuz, ein Gott: ich weiß nicht was. Wir trugen ihn da weg und in den Schnee. Dem Gedicht bin ich, wie ich im Tagebuch sah, Ende August 2011 wiederbegegnet, wohl in einer Anthologie. Das poetologische Interesse griff nach ihm unter dem Thema Enjambement und Vers-Einheit, mit welchem ich die Reihe dieser poetics hier begonnen hatte. (Ich merke das an, weil ihre Reihe sich sonst vornehmlich aus aktuell, d.h. zufällig angetroffenen und erkannten Gelegenheiten zur Poetologie ergibt). Enjambement: Wenn ein Vers die syntaktische Ganzheit unterbricht und den Satz-Rest im folgenden oder den folgenden Versen absetzt. Anders als bei freien Rhythmen hat man bei gleichlangen Versen (außer kurzzeiligen) einen Satz zu teilen bei seinem Beginn noch nicht vor – es wird wohl kaum vorkommen, daß einem einfällt, wegen eines fortsetzenden Satzteils, der einem etwa fertig vorschwebt als Anreiz, das Gedicht zu schreiben. – Voilà, ein neues poetologisches Thema: die Unterordnung der Fortsetzungen unter den Satzeinsatz, ihre Abhängigkeit von ihm!) (?). Im Tagebuch war angemerkt: die Klammer-Spannung, die von dem Einsatz her die folgenden Glieder einbindet bei einem Satz – so deutlich sie sein mag, im Vers klammert sie nur gleichsam, nur syntaktisch, von außen, denn in einem Vers gibt es in diesem Sinn kein gleichsam, ein Vers ist ein selbständig lebendes Wesen. Gedichte sind, vorwärts und rückwärts, hin und her, ästhetische Strukturen, in sich erregt, erregend, verbunden. Und zugleich, im Ganzen wie im Einzelnen über sich hinaus, bleiben sie verbindlich mit allem, was sie tun. Hier geht es um den zweiten Vers, Des Weges. Seine Wimpern hingen – der Vers hätte keine Selbständigkeit ohne Vers 1. Aber er meldet den Anspruch an: mit dem Rhythmus, mit seinen Lauten – seiner Stabreim-Bindung Weges ... Wimpern, dem binnenreim-haften Anklang von Wimpern und hingen, deren Präsenz die Verkürzung um einen Versfuß zusätzlich hervorhebt. Diese Entdeckung regt mich so auf, daß ich aufhören muß, bis zu Tränen (denn ich bedenke, daß diese Leistung gewiß nicht vorsätzlich, nicht kalkuliert ist, sondern die poetologische Erregung bringt sie intuitiv hervor, unsere leibliche Erregung, die schon die des Gedichts ist. Ich wollte noch, sah noch, setzte noch an zu Vers 3 – schau, das für Wimpern ungewöhnliche Schwer, mit dem er beginnt, bedingt, daß der Vers die vorher eingegebenen Impulse überholt: Wimpern hingen / Schwer und zufrieden in die Augenschatten – liest man das unaufgebracht, kommt man zu einem stark konturierten gegenständlichen Bild, bei dem man anhält, weil man es nur in Ruhe aufnehmen kann ... Er hat auch wieder 5 Hebungen. Aber das in der Senkung gegebene Schwer teilt sich mit dem den Akzent metrisch tragenden deutlich weniger akzentfähigen und in die Betonung, und es ist dieses Schweben, das die Ruhe herstellt! Auf welche der gänzlich ungespannte, ganz regelmäßige Vers 4 folgt: Man hätte meinen können, daß er schliefe. Jetzt erst sehe ich, rückwärts also, daß eine gleiche Teilung, ein gleiches Schweben schon im ersten Vers da ist: Der → lag. Aber den ersten Vers liest man mühelos, und mühelos ist sein Hauptwort, es gleitet unauffällig durch den Vers, glatt. Der Vers ist so mühelos, daß er mühelos auch zum Titel taugt und im Gedächtnis bleibt, ähnlich dem anderen Höllerer-Vers O sieh den roten Mohn, erschrick, der ebenfalls zum Titel wurde, aber in seinem Gedicht der siebenundzwanzigste ist. Je wacher du hinschaust in das unsrige, desto unangreifbar müheloser wird das mühelos in ihm, es gleitet an aller sarkastischen Nuance vorbei, und zynisch ist es schon gar nicht, wie das ganze Gedicht nicht, dessen hochsensibel durch & durch erregte Gestalt einen der vielen Kriegstoten birgt, der am Weg lag und für den Durchmarsch der Kolonne weggeräumt werden mußte. Es könnte ein Ding-Gedicht sein, es ist still, empört nicht - - - schwingt ... Ich komme nicht über die Erschütterung, die der zweite Vers bewirkt hat, hinweg. Vielleicht können ja andere die anderen Verse aufsuchen und eine Fortsetzung der Erörterung wagen.
|
Elke Erb
Poetics
Laudatio
Lyrik
|
|
poetenladen | Blumenstraße 25 | 04155 Leipzig | Germany
|
virtueller raum für dichtung
|