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Elke Erbs
Poetics 23
Martin Bernhardt Greifswald
NOTWEHR
Der Baum warf
als tödliche Kälte
in sein Geäst drang
seine Blätter auf die Erde
Hier nehmt ...
Die Säfte blieben im Stamm
Retter des Lebens für
wärmere Zeit
(1978)
* * *
Je mehr ich die Zeit
nicht wandle
wandelt sie mich
So brechen wir auf
denn was wir alles
verloren ist wenig
das meiste hatten wir nie
Indem wir uns
tragbar werden
werden es nicht unsere Grenzen
Fürchtet euch nicht!
(1982)
Das ist ein Sinn-Spruch, Wahrspruch. Seine Ansprache ist leise, bescheiden, er berichtet. Sein letzter Vers möchte aufrichten. Er ergibt sich folgerichtig aus den anderen. Das So der vierten Zeile beginnt eine Schlußfolgerung aus dem Ultimatum der ersten 3, die folgenden 3 fügen sich, wie die ersten, still aneinander.
Weil die fünfte nicht selbständig steht, sprechen auch die beiden folgenden nicht selbständig, obwohl sie selbständig stehen könnten, sogar mit Ausrufezeichen:
Verloren ist wenig! – Das meiste hatten wir nie!
Für sich allein könnte auch Denn was wir alles selbständig stehn, nämlich abbrechend – der sie spricht, gäbe es auf, über das alles hinweg noch etwas zu erwägen. Und diese minimale Aufgabe wirkt auch hier nach dem Abbruch, so daß verloren ist wenig eben nicht mit Ausrufezeichen stehen kann.
Die nächsten 3 Zeilen sind klug, wenn nicht gar schon weise. Sie setzen zurecht die Vers-ähnliche Unterbrechung als Pause für das Folgen und Besinnen ein.
Der erste Text (NOTWEHR)ist offenkundig nur ein Spruch, der zweite verlangt, etwas näher erörtert zu werden.
Ich fasse diese Betrachtung als Übung auf.
Ich meine, sie hat das ihre geleistet, wenn ich nun ohne weiteres verstehe, wieso die drei folgenden Texte Gedichte sind, obwohl auch sie Zeilen tragen, die ich nicht als Verse anerkenne.
DIE UNBEKANNTEN
Der systematische Verfall
der Kleinstädte
geht seinem Ende entgegen.
Erdhöhlen
und Gummideckel boten
keine ausreichende Unterkunft.
Neubauviertel entbehren
der Freizügigkeit.
Die Mauer steht,
der Wind geht
über die Friedhöfe.
Schönen Gruß noch!
(1984)
Es kann auch Gedichte ohne syntaktisch bestimmte Verse geben.
Und Poesien jenseits der Sprache, auch ohne daß ein Gedicht sie gibt.
EPIGRAPH
für Reiner Kunze
Nirgends ein Land
Die Hochwälder schweigen
Und der Baum
Um den es geht
Ist zwischen zwei Feuern
Ich kann nicht länger
Hier stehen
Sagt er
Aber ich kann
Nirgendwo hin
Langsam wächst Gras
Über die Sache
(15.9.1981)
Beachte (auch in den ersten beiden oben zitierten), wie sparsam die Sprache ist -- ihr Fließen bleibt ungestört, bei sich. Dieses Gedicht wird von der Pointe geschlossen (und freigegeben).
Trauer und Auswegslosigkeit bleiben ...
NUR NOCH DIE BÄUME
Nur noch die Bäume
passen sich der Gedrücktheit
dieses Landes nicht an
Wir stehen unter
dem Wendpunkt der Sonne
zu beiden Seiten
der Nacht
Was siehst du?
Hinter den großen Wäldern
spielt ein Kind
Manchmal liegen wir
im Sand und weinen
Dort wo gestern
noch das Meer
war
(10.5.1980)
Was siehst du – nimmt „hinter den großen Wäldern“ die Poesielichkeit. Der Einfall am Schluß entwirft/entscheidet das Gedicht.
Martin Bernhardt, 1961 geboren (in Greifswald), hat sich mit 39 das Leben genommen, auf den Fotos im Buch* ein schöner, auch wohl kräftiger junger Mann, die Biografie spricht von Widerstand und Empörung, die Ansprache ist Güte.
*M.B. Das Maß /allen Lebens / ist die Axt / sagt der Baum.
Herausgegeben von Olaf Bernhardt. Verlag Lutz Wohlrab, Berlin 2010
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Elke Erb
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