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Elke Erbs
Poetics  2



Rilke Marien

Seit Wochen lese ich Rilke beim Frühstück und notiere dabei die Stellen zu poeto­logi­schen Themen, für die ich Beispiel-Dateien anlege. D.h. ich bekomme einen Überblick über diese Themen. Es ist immer noch der junge Rilke, aus dem ich die Beispiele hole. In der Mehrzahl sind es Stellen, bei denen etwas nicht stimmt. Mittlerweile bildet sich aber auch eine positive Reihe heraus. Von ihr verspreche ich mir mehr, als mit dem Ärger einmal fertigzuwerden.
  Heute zitiere ich aus der Sammlung „Das Marien-Leben“ (1912) und bleibe* zunächst bei den Themen Reim und Enjambement (= Rest einer semantischen Satz-Einheit springt in den nächsten Vers)

*Vgl. Rilke / Abend; poetenladen.de 11.11.10, Poetics 1

Mariä Verkündung beginnt:

Nicht daß ein Engel eintrat (das erkenn),
erschreckte sie. So wenig andre, wenn
ein Sonnenstrahl oder der Mond bei Nacht
in ihrem Zimmer sich zu schaffen macht,
auffahren –, pflegte sie an der Gestalt,
in der ein Engel ging, sich zu entrüsten;
sie ahnte kaum, daß dieser Aufenthalt
mühsam für Engel ist. [...]

Vers 1: das erkenn – : Ich habe viele Reim-Dichtung aus dem Russischen übersetzt, einen hineingepfuschten Reim wie erkenn (und auch noch bloß auf wenn) hätte ich dem fremden Gedicht niemals angetan. Er findet nichts dabei. Ich überlege, daß ich auch nichts dabei fände, wenn das Gedicht als fort­laufende Prosa gesetzt würde, mit gleitenden Reimen, wie Stückchen Spiegelglas im Gewebe. So aber: Na!
  Vers 2: der Vers mit dem Enjam­bement hat, für sich genommen, ein selbst­stän­diges Leben: eine offene Gesell­schaft selbständiger Elemente.
  Vers 5: Das Enjam­bement erzeugt einen, für sich genommen, sinnlosen Vers. (Nicht für sich genommen, sondern im Ganzen des Gedichtgefüges, ist er kein Vers mit Selbständigkeit., d.h. eben gar kein Vers, ein Irgendwas. Dagegen ist es von Reiz für mich zurückzugehn und zu auffahren das Subjekt zu suchen. Daß er aber wiederum gerade das Wort auffahren metrisch den Akzent zu wechseln zwingt, gefällt mir nicht. (Es gibt sehr feine, und auch übliche, Akzentsetzungen zum Aufrauhen des metrischen Einerlei, dieser gehört nicht zu ihnen (es ist ja das auf ausdrücklich als schwächlich bezeichnet in Vers 2)
  Vers 6: Das Enjambement ist mißverständlich innerhalb des Verses: der Engel ging nicht, sich zu entrüsten.

Bei Vers 4 komme ich auf ein weiteres Thema. Sein Datei-Name ist bei mir unörtlich. Es könnte auch undinglich heißen oder unkonkret. Unörtlich ist bis jetzt das beste, weil ja das Dingliche dinglich im Raum ist: Wie soll sein oder aussehn, wenn ein Strahl sich zu schaffen macht?

Das Gedicht geht noch 16 Verse, auch mit Schönem, weiter.

Zur Erholung zitiere ich das nächste Gedicht im Ganzen:

Mariä Heimsuchung

Noch erging sie's leicht im Anbeginne,
doch im Steigen manchmal ward sie schon
ihres wunderbaren Leibes inne, –
und dann stand sie, atmend, auf den hohn

Judenbergen. Aber nicht das Land,
ihre Fülle war um sie gebreitet;
gehend fühlte sie: man überschreitet
nie die Größe, die sie jetzt empfand.

Und es drängte sie, die Hand zu legen
auf den andern Leib, der weiter war.
Und die Frauen schwankten sich entgegen
und berührten sich Gewand und Haar.

Jede, voll von ihrem Heiligtume,
schützte sich mit der Gevatterin.
Ach, der Heiland in ihr war noch Blume,
doch den Täufer in dem Schooß der Muhme
riß die Freude schon zum Hüpfen hin.


S. Lukas 1, 30-42.
Das erste, was mir an dem Gedicht gefiel, war der Reim hohn in Vers 4 und das Strophen-Enjambement zu Vers 5. Weil ich zuerst stutze und dies hohn nicht gleich erfasse, also einen kleinen Hub brauche, hebt mich der über die optische Pause auch auf die hohnJudenberge.

Im Internet kann man alle Rilke-Gedichte finden.
  Z.B. bekommt man was zum Lachen, wenn man das nächste Gedicht in Das Marien-Lebenliest: Argwohn Josephs. Man muß es laut lesen, nämlich mit der Stimme den Erregungen folgen.

 

Elke Erb   21.12.2010   

 

 
Elke Erb
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