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Elke Erbs Poetics 35
Literatur Bei ihnen da, abgeschieden, auf dem Land, im Winter die Mama, Südrossíja, fensterhoch Schnee, liebte zu lesen, auf der kleinen dreieckigen Ofenbank, stellte die Mama die Beine auf einen Stuhl, las laut flüsternd einen zerlesenen Roman aus der Bobrinezschen Bibliothek, wobei sie mit den abgearbeiteten Fingern über die Zeilen strich, in den stillen arbeitsfreien Wintertagen konnte man schon im Flur ihr rhythmisches Flüstern vernehmen. Sie verlor oft die Worte, blieb bei kompliziert gebauten Sätzen stecken. Manchmal zeigte ihr eines der Kinder durch Vorsagen das Gelesene in ganz anderem Lichte. ------------------ Ich begann mit dem Lesen im Jahre 1887, als Moissej Filippowitsch nach Janowka kam und ein Paket Bücher mitbrachte, unter denen die Volkserzählungen von Tolstoi waren. In die Bücher sich hineinzulesen war in der ersten Zeit weniger süß als mühselig. Jedes Buch brachte neue Hindernisse: unbekannte Worte, unverständliche Lebensbeziehungen, schimmernde Grenzen zwischen Realität und Phantastik. Es gab gewöhnlich keinen, an den ich mich um eine Erklärung wenden konnte. Ich wurde verwirrt, begann wieder, stellte es wieder ein und begann wieder von neuem, wobei sich unklare Freude der Erkenntnis mit einer Angst vor dem Unbekannten vermischte. Man kann mein damaliges Lesen vielleicht am besten mit dem nächtlichen Fahren über die Steppenwege vergleichen, man hört das Knarren der Räder, sich kreuzende Stimmen, Scheiterhaufen am Wege treten aus der Dunkelheit hervor – alles erscheint so vertraut fühlen, warum, gleichzeitig jedoch unbegreiflich: was geschieht da, wer fährt da und zu welchem Zwecke; es ist sogar unklar, wohin du selber fährst, vorwärts oder rückwärts. Aber beim Lesen ist niemand da, der dir, wie Onkel Grigorij in der Steppe, erklärt: unsere Fuhrleute fahren den Weizen. In Odessa war die Auswahl der Bücher unvergleichlich größer, sie geschah auch unter aufmerksamer, wohlwollender Leitung. Ich begann, gierig zu lesen. Zum Spazierengehen mußte man mich losreißen. Unterwegs erlebte ich das Gelesene, eilte zum Buche zurück. Abends, vor dem Schlafengehen, flehte ich, mir eine Viertelstunde länger zu bewilligen, mindestens aber fünf Minuten, um das Kapitel zu beenden. Jeden Abend gab es deshalb einen Wortwechsel. Die erwachende Sehnsucht, zu sehen, zu wissen, zu bewältigen, suchte einen Ausweg in dem unermüdlichen Verschlingen gedruckter Zeilen, in den dem Born der Worterfindung stets zugewandten kindlichen Händen und Lippen. Alles, was im ferneren Leben an Interessantem, Hinreißendem, Freudigem oder Traurigem geschah, war schon in den Erlebnissen der Lektüre als Schatten, als Versprechen, als leichte Bleistiftskizze oder Aquarell enthalten gewesen. Der nächste Absatz ist relativ billig. Wollte er genau sein? Warum. Das abendliche Vorlesen in den ersten Jahren meines Lebens in Odessa zwischen dem Ende der Tagesarbeit und dem Schlaf gehörte zu den schönsten Stunden oder richtiger Halbstunden. Moissej Filippowitsch las meistens Puschkin und Nekrassow vor, häufiger den letzteren. Aber zur festgesetzten Stunde sagte Fanni Solomonowna: „Es ist Zeit für dich, Ljowuschka, schlafen zu gehen.“ Ich sah sie flehend an. „Man muß schlafen gehen, Junge“, bekräftigte Moissej Filippowitsch. „Noch fünf Minuten“, bat ich. Die bewilligte man mir. Dann nahm ich mit einem Kuß Abschied und ging mit dem Gefühl, ich hätte die ganze Nacht zuhören mögen, schlief aber ein, kaum daß mein Kopf das Kissen berührt hatte. Der Text ist in Prosa geschrieben. Die Zeilen, die wie Verse gesetzt sind, habe ich abgeteilt. Nach seinem Vorwort zu dem Buch „Mein Leben“ dankt Leo Trotzki Alexandra Ramm für die deutsche Übersetzung.
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Elke Erb
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