POETENLADEN - neue Literatur im Netz - Home
 
 
 
 
 
 
 
April 2010
 
Zeitschriftenlese  –  März 2010
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch

Um sich die gegenwärtig knapp gewordene Ressource Aufmerksamkeit zu sichern, verwandelt sich so mancher Schrift­steller in einen Schreihals. Zu den lautstarken Rabauken der Schrift, die sich mit grellen Provo­kationen exponieren, darf man auch den russischen Schrift­steller Edward Limonow rechnen, der seit Jahren lite­rarische Aggres­sions­techniken ausprobiert, die der Subti­lität unverdächtig sind. In seiner aktuellen Ausgabe No. 13 hat nun das Magazin „Krachkultur“ den rebel­lischen Schreihals Limonow als litera­rischen Kron­zeugen adoptiert. Ende der sechziger Jahre hatte Limonow der Sowjet­union den Rücken gekehrt, um in New York und der Neuen Welt sein Glück zu finden. Was er fand, war ein Vagabun­denda­sein unter Alkoho­likern, Land­streichern und mar­ginali­sierten Emigranten, von denen er später in seinem auto­bio­gra­fischen Roman „Fuck off, Amerika“ und ähnlich dras­tischen Er­zäh­lungen berichtete. Zum Selbst­ver­ständ­nis dieses Autors gehört ein offen ausgelebter Größen­wahn, der ihn dazu trieb, nach seiner Rückkehr nach Russland eine National­bolsche­wis­tische Partei zu gründen und sich als Wieder­gänger Lenins gegen Russlands auto­kratischen Präsi­denten Putin zu posi­tionieren. Seine Erzählungen, die sich an Drastik und bewusst mobili­sierten Klischees gegenseitig überbieten, sind so recht nach dem Geschmack der Zeitschrift „Krachkultur“, die mit den Limonow-Kostproben ihrem Namen alle Ehre macht. In der umfang­reichs­ten Erzählung dieser „Krachkultur“-Ausgabe erwählt sich der Prota­gonist, ein russischer Emigrant in einem herunter­gekommenen New Yorker Hotel, den italienischen Diktator Benito Mussolini zu seinem Vorbild. Limonow erzählt von der Kläglichkeit des Emigranten­daseins in New York, einem Leben in schmutzigen Hotels zwischen schwarzen Drogen­dealern, aus­schweifenden Alkohol­orgien, zusammen­geschnorrter Sozial­hilfe und unfassbarer Elends­prosti­tution. Für die haar­sträu­benden Abenteuer seines Helden findet Limonow einen rauen, aggressiven Ton der Männlichkeit, der sich mehr als einmal seiner eigenen Absurdität überführt. Auch die Identifikation des Helden mit Mussolini gehört zu den recht durchsichtigen Tricks, die Limonow anwendet, um seine Provo­kations­strategie auf Touren zu bringen. Sein herber Realismus muss sich zudem ständig eines überdrehten Vulgär­idioms bedienen, um die gewünschten Schock­wirkungen zu erzielen.
Als deutsches Pendant des kunstvollen Schreihalses bringt die „Krachkultur“ einen altgedienten Bohemien und Männlich­keits­darsteller ins Spiel: Wolf Wondratschek. Was hier Wolf Reiser in seiner Reportage über Deutschlands angeblich letzten „Rock-Poeten“ zusammen­getragen hat, bedient aber nur die alte Wondratschek-Legende vom lonesome Cowboy, der sein Außen­seiter­tum durch Begeis­terung für den Boxkampf, für das Mafia- und das Prosti­tuierten­milieu kultiviert. Der Reporter ist sichtlich bemüht, dem Selbst­ver­ständnis des Autors zu schmeicheln und ihm die „Hingabe“ einer – so wörtlich – „blutenden Männer­seele“ anzudichten. Was sich Wondratschek bei seinen Recherchen durch die Spelunken St. Paulis bis hin zu den Territorien des Wiener Opern­milieus jedenfalls immer bewahrt hat, ist seine „große Klappe“. An eitlem Selbstlob herrschte bei diesem Autor nie ein Mangel.

Während ein junges Literatur­magazin wie „Krachkultur“ gerne auf vorder­gründige, grelle Effekte setzt, da verstrickt sich eine tradi­tions­reiche Zeit­schrift wie „Sinn und Form“ lieber in die schmerz­haften Bewusst­seins­heraus­for­derungen unserer Epoche. „Sinn und Form“ ist auch im sechzigs­ten Jahr seines Bestehens den Prin­zipien seines Grün­dungs­heraus­gebers Peter Huchel treu geblieben. In den Gründer­jahren der DDR war es Huchel, der „Sinn und Form“ zu einem Forum für offenes, unre­glemen­tiertes Denken verwandelte und dort den über­zeugten Marxisten ebenso ein Diskus­sions­organ bot wie Skeptikern, Fata­listen und anderen frei schwebenden Intel­lektuel­len. Huchel bezahlte für diese Offenheit den Preis der gesell­schaft­lichen Isolation. 1962 zwang man ihn zum Rücktritt als Chef­redakteur und hielt ihn in seinem Haus nahe Potsdam de facto unter Haus­arrest. Aber auch seine Nach­folger in der „Sinn und Form“-Chef­redaktion ließen sich von den Vorgaben der SED-Kultur­politiker nicht knechten. „Sinn und Form“ blieb eine Zeitschrift der weltan­schaulichen Häresie, der lite­rarischen Unbot­mäßigkeit. Für die so­zialis­tischen Reform­träume eines Stephan Hermlin oder Volker Braun war hier ebenso Platz wie für die Tagebücher von Ernst Jünger. Im Jubi­läums­heft von „Sinn und Form“, der No 2/2010, veröf­fent­licht man nun ein Kleinod lite­ratur­kritischer Dissidenz. Es ist ein Stück literatur­kritische Prosa aus dem Nachlass des 2001 verstor­benen Schrift­stellers W.G. Sebald, das – wie so vieles aus der Feder dieses Autors – brisante Thesen enthält. Sebald hatte 1993 in der Zeit­schrift „Lettre inter­national“ eine Attacke auf den Schrift­steller­kol­legen Alfred Andersch publiziert, einen Essay, der einem Denk­malsturz der linken Ikone Andersch gleichkam. In der gleichen Zeit schrieb Sebald einen kritischen Essay über Jurek Becker und über dessen viel gelobte Romane über Menschen im jüdischen Ghetto. Dass der Suhrkamp Verlag damals die Publikation von Sebalds Essay in einem Materialienband über Becker ablehnte, verwundert nicht. Der nun in „Sinn und Form“ abgedruckte Sebald-Essay über Jurek Becker enthält erhebliche Kritik am literarischen Modus der Erin­nerung, dessen sich Becker in seinen Ghetto-Romanen bedient. Hier sei ein „Mangel an persönlicher Präsenz“ zu verzeichnen, so moniert Sebald, eine „wirk­liche Er­in­nerungs­leis­tung“ finde bei Becker nicht statt, das „Erin­nerungs­modell“ sei ein falsches, „von nostal­gischer Traurigkeit überglänztes“. Die Lektüre der Jurek Becker-Romane erwecke geradezu den Eindruck, die Erin­nerung an die Schrecken des Ghettos sei vom Autor „vorsätzlich unterbunden“ worden. Das, so resümiert Sebald, sei aber auch als „Schutz­mechanis­mus“ des Autors zu verstehen, um der „zerstörerischen Gewalt“ der Kindheits­erin­nerungen in sich keinen Raum zu gewähren. Mit solchen Thesen stellte sich Sebald, wie später auch in seinen Reflexionen über „Literatur und Luftkrieg“, weit außerhalb des germanis­tischen Konsensus.

Eine Position des Außerhalb, des kunst­vollen, aber rand­ständigen Schrei­bens nehmen oft auch die Autoren der nach wie vor besten deutschsprachigen Lyrik-Zeitschrift „Zwischen den Zeilen“ ein. In der aktuellen Nummer 31 von „Zwischen den Zeilen“ präsentieren sich einige Autorinnen und Autoren, die ihre literarische Sozia­lisation am Literatur­institut in Leipzig durchlaufen haben. Aber welch unterschiedliche Tempera­mente sind da anzuzeigen! Der aus Völklingen stammende Konstantin Ames favorisiert ein sprach­experimentel­les Schreiben, das auf die „Ironie­fähigkeit“ und semantische Bieg­samkeit des lyrischen Sprechens vertraut. Die in Mecklenburg aufge­wachsene Kerstin Preiwuß entwickelt eine aus alptraum­haften Visionen und Schreckens­mythen sich speisende „Rede“, in die sich existenzielle Elemen­tar­erfahrungen eingeschrieben haben. Der literatur­historisch versierte Bertram Reinecke schließlich schreibt lyrische Texte nach Quelltexten unter­schied­lichs­ter Art, als könne Dichtung nur noch entstehen durch die Anver­wandlung und Über­schreibung älterer Sprach­schichten. So wird von Reinecke eine Übersetzung des walisischen Dichters Dylan Thomas in vier verschie­denen, höchst kunstvollen Versionen durchgespielt oder ein altes Andreas Gryphius-Sonett auf das aktuelle Thema Finanz­speku­lation hin transformiert. Am eindringlichsten spricht in diesem „Zwischen den Zeilen“-Heft die lyrische Stimme von Kerstin Preiwuß, die in ihrem neuen poetischen Zyklus die möglichen Bewegungs­formen der Gedicht-Wörter in ihrer Aus­ein­ander­setzung mit dem Tod evo­ziert. Thema­ti­siert werden Meta­mor­phosen des Körpers und Urszenen des Schmerzes. Ich zitiere den Anfang ihres Zyklus:

heut wird gehäutet
sagen die leut
roh am schmerz
ausschaben
sagen die leut
weidet euch

wächst ein geweih aus
linnen erst dann pergament dann bast
zur not ein

verschwinden unter der hand
kauert unter den nägeln
der kopf und der leib eine frau

ist mir gegeben
zum überleben

Eine weitere eigensinnige Stimme aus Leipzig wird im neuen Heft, der Nummer 57 der Dresdner Zeitschrift „Ostragehege“ vorgestellt: die Dich­terin Mara Genschel, die in ihren Texten die musi­ka­lische Ver­wandt­schaft der Poesie mit dem Gesang zu zele­brieren versteht. In einem Porträt Mara Genschels bescheinigt ihr Anja Utler eine „(volksliedverwandte) Direktheit“ und „Klang­verläufe körper­lichen Hier­seins“ – wobei in den abgedruckten Texten Mara Genschels nicht recht deutlich wird, ob sich ihr Sprechen wirklich einer musi­kalischen Inspiration oder eher einer sprach­gestischen Willkür verdankt. In Heft 57 von „Ostragehege“ lassen sich noch weitere aufregende Funde machen: ein neuer Zyklus des lyrischen Mystikers Christian Lehnert etwa oder neue poeto­logische Notizen von Elke Erb. Von großer expressiver Wucht sind die Arbeiten des Dresdner Maler-Dichter Andreas Hegewald, der in „Ostragehege“ farbintensive Tinto­graphien über die vier Ur-Elemente Wasser, Erde, Feuer und Luft präsentiert. Der künstle­rischen Mehr­fach­begabung Hegewald verdanken wir nicht nur diese faszi­nierend leucht­kräftigen Tuschebilder, sondern auch die Gründung eines unabhän­gigen bibliophilen Verlags, der noch zu DDR-Zeiten den Doktrinen der SED-Kulturpolitik eine freie, offene Poesie entgegensetzte.

In den Quell­gründen dieser nicht-offiziellen, dissidentischen Poesie hat auch der Schrift­steller Jan Faktor seine ersten Geh­versuche unternommen. Er schrieb in den achtziger Jahren des 20. Jahr­hun­derts eine bizarre expe­rimen­telle Dich­tung – und zwar an der Seite jener „Prenz­lauer Berg-Connection“, die sich nach der Wende als reges Einfluss­gebiet des Staats­sicher­heits­dienstes entpuppte. Welch wunder­same Wege und Um­wege ein unorthodoxer lite­rarischer Lebens­lauf nehmen kann, zeigt in der neuen Ausgabe, der No 8 des „poet“ das große Gespräch mit Jan Faktor. Als tsche­chisch schrei­bender Jungautor kam Jan Faktor 1978 ins „hässliche Ostberlin“ und schloss sich dort alsbald den rebel­lischen Zirkeln um den Bürger­rechtler Ekkehard Maaß und später den poetischen Anarchisten um Bert Papenfuß und Stefan Döring an. Bald fing Faktor an, Wörter­bücher auszu­schlach­ten und banale Texte nach allen Regeln der Kunst zu zerhacken. So entwickelte er sich rasch zum deutschen Sprachartisten, der 1989 im Aufbau Verlag den experi­mentel­len Band „Georgs Sorgen um die Zukunft“ vorlegte – nicht ahnend, dass die Partei mit einer eigens einge­richteten Edition die Prenzlauer Berg-Dichter ver­ein­nahmen wollte. Nach den Enthüllungen um die Stasi-Ver­strickungen von Sascha Anderson und Rainer Schedlinski wandte sich Faktor in den neunziger Jahren vom Prenzlauer Berg-Biotop ab und versuchte neue lite­rarische Wege zu finden. Nach vielen vergeb­lichen Anläufen gelang Faktor der Durchbruch zum Romanautor – bis hin zum vielfach verzweig­ten Kindheits- und Ent­wicklungs­roman „Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des Heiligen Hodensack-Bimbams von Prag“, der in diesem Jahr für den Leipziger Buch­preis nominiert war. Für seine literarische Erfolgsgeschichte wurde Faktor absurderweise von seinen früheren Kollegen abgestraft: Er galt wegen seiner Prosa-Eskapaden einige Zeit als „Ver­räter“ und Oppor­tunist. Lite­rarische Wider­stands­fähigkeit bemisst sich jedoch nicht nach Erfül­lung irgendwelcher Rebel­lions-Normen. Sie rea­lisiert sich in der Durch­brechung aller Regeln und Dok­trinen, die zur litera­rischen Kon­vention geschrumpft sind. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Regeln nun bürger­licher oder anti­bürger­licher Herkunft sind. Wer sich lite­rarisch immer nur wiederholt, hat ästhetisch kapituliert.

Krachkulturt: H. 13, 2010   externer Link
Bunte Raben Verlag, Martin Brinkmann, Hollerallee 6, 28209 Bremen, 180 S., 10 €

Sinn und Form: H. 2/2010  externer Link
Redaktion: Postfach 210250, 10502 Berlin. 140 S., 9 €

Zwischen den Zeilen: H. 31, 2010   externer Link
Urs Engeler, Postfach, CH-4718 Holderbank SO. 190 S., 10

Ostragehege: H. 57, 2010   externer Link
c/o Axel Helbig, Birkenstr. 16, 01328 Dresden. 78 S., 4,90 €

poet: No 8, 2010   externer Link
Poetenladen, Blumenstr. 25, 04155 Leipzig. 256 S., 8.80 €

Michael Braun    13.04.2010       

Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese April 2010

Michael Braun
Bericht
Archiv