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Dezember 2010
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Zeitschriftenlese  –  Dezember 2010
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch

Einer der angesehensten deutschen Schriftsteller, der allseits beliebte Wortkünstler und Sprachenregisseur Oskar Pastior, der mit seinen poetischen Zaubereien ein breites Publikum fasziniert hat, ist kürzlich in Misskredit geraten. Der 1927 in Siebenbürgen geborene und 2006 während der Frankfurter Buchmesse verstorbene Dichter schien seine eigene Biographie in eine komplizierte poetische Grammatik aus Sprach- und Form-Erfindungen transformiert zu haben.
  Vor einigen Wochen wurde aber ruchbar, dass Pastior, der Mann aus Wörtern, auch ein Informant der Securitate, des rumänischen Geheimdienstes, gewesen ist. Dieser Schock hat die fast schon beerdigte Debatte über Literatur und Verrat und über das Verhältnis der Poesie zur Macht neu aufgewühlt. Die rumänien­deutschen Schrift­steller, die neben der alles überstrahlenden Nobel­preisträgerin Herta Müller an den Rand des Interesses geraten waren, stehen nun wieder im Fokus der öffentlichen Auf­merk­samkeit. Mit einer auffälligen Ver­bitterung streiten nun die Autoren aus dem Banat und Sieben­bürgen über die Bewertung des Falls Pastior. Seit im Jahr 2006 die Archive des rumäni­schen Geheim­dienstes geöffnet wurden, kommen immer neue Fälle von gegen­seitiger Bespit­zelung unter Schrift­steller­kollegen ans Tages­licht, und es scheint, als öffne sich ein tiefer Graben zwischen jenen Autoren, die sich dereinst in kollek­tiver poetischer Opposi­tion gegen das Regime des Dikta­tors Nikolae Ceausescu aufgelehnt hatten.
  Bislang ist schwer zu entscheiden, ob und in welcher Weise die rumänien­deutsche Literaturgeschichte neu geschrieben werden muss. Die einzelnen Fälle von konspirativer Zusammen­arbeit mit der Securitate sind sehr unter­schiedlich zu bewerten, und nicht immer scheint es ange­messen, auf die Enthüllung einer politischen Ver­strickung sofort mit dem Gestus totaler Verwerfung des jeweiligen Autors zu reagieren. Ein materialreicher Aufsatz in der aktuellen Ausgabe, der Nummer 6/2010 der Kultur­zeitschrift „Sinn und Form“, gibt nun einen ersten verlässlichen Überblick über die Geschichte von Poesie und Verrat im Umfeld der sogenannten „Aktions­gruppe Banat“, der einst Autoren wie Richard Wagner, Ernest Wichner und Johann Lippet, und später dann auch, im Umfeld des soge­nannten „Adam-Müller-Gutten­brunn“-Kreises, Herta Müller angehörte. Sabina Kienlechner skizziert in „Sinn und Form“ zunächst die Geschichte der „Aktions­gruppe Banat“, die sich 1972 als widerständiger Dichterkreis formiert hatte, um den Hofdichtern des Ceausescu-Regimes und den Heimat­kitsch-Autoren im Banat und Sieben­bürgen eine Poetik der radikalen Moderne entgegenzusetzen. Als spiritus rector dieser damals noch sehr jungen Dichter agierte Richard Wagner, der wie seine Kollegen davon träumte, dass die Dichter als „sanfte Guerilleros“ agieren, im Rückgriff auf einen undogmatischen Marxismus. Drei Jahre lang konnte die „Aktionsgruppe Banat“ ihre kriti­sche und experimentelle Poetik entwickeln, bis die Securitate 1975 daran ging, durch Einschüch­terungen, Drohungen, Verhaftungen und Spaltungs­versuche die Gruppe zu zerschlagen.
  Die zerstö­rerische Arbeit des Geheim­dienstes konnte aber nur Erfolg haben, so kann Kien­lechners „Sinn und Form“-Aufsatz belegen, mit Hilfe lite­rarischer Doppel­agenten, die ihre eigenen Kollegen ans Messer lieferten. Unter massiver Bespit­zelung hatten vor allem die Dichter Gerhard Ortinau und William Totok zu leiden, die von ihren falschen Freunden denunziert und in die Falle gelockt wurden. Als besonders gefähr­lich erschien den Securitate-Spitzeln ein Gedicht von Gerhard Ortinau, das sich vorder­gründig als Sprachspiel über Eigen­schaften grammatischer Wortarten maskiert, hinter dem sich dann eine subtile Diagnose der rumänischen Diktatur verbirgt. Ortinaus Gedicht beginnt so:
  „ein pronomen ist verhaftet worden / das numerale wird beauftragt die lücke auszufüllen / das subs­tantiv wechselt seinen besitzer / das verb wird mit sach­kenntnis in die falle gelockt / das adverb wird aus der zeitung gestrichen …“ Solche Gedichte genügten, um den ganzen Über­wachungs­apparat der Securitate in Bewegung zu setzen, der schließ­lich eine Kampagne gegen Ortinau startete, die fast zur physischen Vernichtung des Dichters führte. Nach seiner Ausreise litt Ortinau jahrelang unter schweren De­pres­sionen, sein Kollege Rolf Bossert, der poetisch begab­teste Kopf unter den rumänien­deutschen Dissidenten, nahm sich 1986 das Leben. Sabina Kienlechner scheut sich in ihrem „Sinn und Form“-Aufsatz auch nicht, die lite­rarischen Doppel­agenten namentlich zu benennen, die sich nach ihrer Ansicht mit beson­derem Übereifer der Securitate andienten. Sie verweist auf den Lyriker Werner Söllner und vor allem auf die Schrift­steller Peter Grosz und Franz Thomas Schleich, die sich offenbar in beson­ders denunzia­tori­scher Weise als Bericht­erstatter betätigt haben. Im Blick auf die Abgründe von Poesie und Verrat schrieb Richard Wagner 1987 auch sein Gedicht „Curriculum“, das in lakonischer Härte dieses Leben der rumänien­deutschen Dichter unter ständiger Bedrohung zusammen­fasst:

Curriculum

Nicht erschlagen, fertiggemacht.
Belogen, bis ich selber log.
Nicht nackt, nur mir selber entzogen.
Nicht mit Steinen beworfen, nicht mit Worten.
Bloß mit Schweigen traktiert.
Nicht verhungert, aber der Kopf eine Höhle.
Davongekommen, überlebt, das auch, ja.

Mit dem Thema Poesie und Verrat beschäftigt sich in „Sinn und Form“ auch Manfred Bierwischs bio­graphi­scher Essay über den Literatur­wissen­schaftler und Doku­men­taristen Hans Bunge, eines Brecht-Schülers bzw. -Archivars, der jahre­lang von der Stasi bedrängt und zur Mitarbeit genötigt wurde, ohne jedoch dieser Erpressung gehorsam nach­zugeben. Manfred Bierwisch nimmt das zum Anlass, ein Loblied auf die „Wider­borstigkeit“ jener DDR-Intellektuellen anzustimmen, die man heute allzu leichtfertig des Oppor­tunismus zeiht.
  Eine sorgsame poetische Erinnerungs­arbeit zur deutschen Geschichte leistet auch das „Sinn und Form“-Gespräch mit Jürgen Becker, das die frühen Schreckens­erfahrungen des Autors im Inferno des Zweiten Weltkriegs und seine spätere literarische Annäherung an diese Zeit seiner Kindheit rekonstruiert. Als Jugendlicher erlebte Becker das Kriegs­ende als „Befreiung vom Zwang der Verdunkelung“, als Erlösung vom trauma­tischen Luft­krieg und vom hell erglü­henden Himmel über den brennenden Städten. Später, aber noch vor dem Ende der DDR, schrieb Becker sein „Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“, in dem er sich an seine Kinder­zeit in Erfurt heran­tastete, Erin­nerungs­bilder, die dann auch die Textur seiner späteren Bücher prägen. Beckers Gesprächs­partner in „Sinn und Form“ ist der junge Lyriker und Essayist Renatus Deckert, der seit einiger Zeit die älteren Repräsen­tanten unserer Gegenwarts­litera­tur zu auto­biographischen Selbst­erkundungen anstiftet.
  Eine solche Expedition zu den Quellen des eigenen Lebens und Schreibens unternahm Deckert auch mit dem im vergangenen Jahr verstorbenen Dichter Adolf Endler. In der neuen Ausgabe, der Nummer 6/2010 der Literaturzeitung „Volltext“, sind nun die spannendsten Teile dieses langen Gesprächs nach­zulesen. Endler berichtet – wie Jürgen Becker – von den Traumata des Luftkriegs, die sich – so Endler – „zu einem schwarzen Knäuel ver­wickelt“ haben, der zeitlebens sein pessi­mistisches Welt- und Menschen­bild geprägt hat. Nebenbei gibt Endler auch der These des Schrift­stellers W.G. Sebald recht, der in seinen Zürcher Poetik­vor­lesun­gen von 1995 behauptet hat, dass der Luft­krieg als apoka­lypti­scher Stoff nie wirklich in der deutschen Literatur aufge­nommen worden ist. Der aufregendste Moment des Gesprächs ist die Erzählung Endlers über eine Schlüssel­szene der deutschen Nach­kriegs­literatur. Endler war nämlich Augen­zeuge und Akteur bei der berühmten Tagung der Gruppe 47 in Niendorf an der Ostsee im Frühjahr 1952, die zum Debakel für Paul Celan wurde. Die ehemaligen Landser und Kriegs­heim­kehrer, die damals das Gros der Gruppe 47 bildeten, konnten mit dem Pathos des damals noch unbe­kannten Paul Celan nicht nur wenig anfangen, sondern verstiegen sich sogar zu der denun­ziato­rischen These, er klinge beim Vortrag seiner Gedichte wie Goebbels. Es war der junge Endler, der den brüskierten Celan trösten musste. Eine Mitgründerin der Gruppe 47, die heute völlig vergessene Ilse Schneider-Lengyel, wurde schließlich zur wichtigsten Inspirations­quelle für den Dichter Endler. Schneider-Lengyel hatte erstmals Lyrik von Menschen­fresser­stämmen übersetzt, die zum poetischen Kraft­stoff für den Dichter Endler wurde, der dann 1955 in die DDR übersiedelte.
  Einer Ikone des literarischen Rebel­lentums, dem Dichter Rolf Dieter Brinkmann, ist ein weiterer lesens­werter Beitrag in „Volltext“ gewidmet. Arne Rautenberg nähert sich mit erfri­schend wenig Ehrfurcht den frühen Gedichten Brinkmanns, die noch von jenen schwärme­rischen Er­habenheits­gesten und „blatt­vergoldeten Worten“ getragen sind, in denen die deutsche Lyrik der frühen sechziger Jahre feststeckte. Von der wütenden Radi­kalität der späteren „Westwärts“-Gedichte sind hier nur zarte Spuren zu erkennen.

Wer die poetisch einfalls­reichsten, formal kühnsten und ambi­tionier­testen Gedichte der Gegenwarts­lyrik kennen­lernen will, der muss zu der Literatur­zeitschrift „Park“ greifen, die der Berliner Dichter Michael Speier seit über 30 Jahren im Allein­gang und ohne Sub­ventions­stütze im Rücken herausgibt. Bis in die neunziger Jahre hinein präsen­tierte sich „Park“ in einem strengen Weiß, in seiner typo­graphischen Gestalt durchaus an die Ästhetik Stefan Georges erinnernd. Im aktuellen Heft 64 von „Park“ hat Speier, mit sicherem Gespür für die avancier­testen Schreib­weisen der Gegenwart, neue Gedichte von Monika Rinck, Marion Poschmann und Ulrike Almut Sandig zusammen mit einem fantas­tischen Jesus-Zyklus des flämischen Poeten Dirk von Bastelaere zu einer kleinen Anthologie des jüngsten Modernis­mus komponiert. Es beginnt mit einigen Proben aus dem Zyklus „Honig­pro­tokolle“ der Dichterin Monika Rinck, die mit ihrer eigen­willig sprunghaften Asso­ziations­kunst zu über­zeugen vermag. Es ist, wenn man sich den Titel ihres Zyklus anschaut, zunächst einmal rätsel­haft, wie eine dick­flüssige Substanz wie der Honig mit der textuellen Fixierung eines Proto­kolls vereinbar sein soll. Aber von einer solchen über­raschenden Kom­bina­torik des scheinbar Gegen­sätz­lichen, aber auch des Laut­ähnlichen leben die rhythmisch sug­gestiven Gedichte von Monika Rinck. Von überwäl­tigender Wucht ist schließlich Dirk von Bastelaeres lyrische Wieder­belebung der Jesus-Gestalt, ein phantas­magori­scher Asso­ziations­strom, in dem der biblische Jesus mit den Exzes­sen der Moderne zusammen­prallt.
  Neben dem typo­graphischen Konser­vativis­mus von „Park“ wirkt das aufgeregte, mit unter­schied­lichsten Farben, Schriftarten und graphischen Finessen operie­rende Text-Design in der Zeit­schrift „BELLA triste“ wie eine verkrampfte Demon­stration von über­steuerter Modernität. Sehr lesens­wert sind in diesem Perio­dikum für „junge Literatur“ immer wieder die essayis­tischen Fragmente und Notate am Ende des Heftes. In der aktuellen Nummer 28 von „BELLA triste“ versucht sich die viel­gelobte Schweizer Autorin Dorothee Elmiger an einer Dif­feren­zierung des Ver­hält­nisses von Literatur und Wirk­lichkeit, wobei die substantiellsten Passagen ihres Textes von dem französischen Meisterdenker Roland Barthes geliehen sind. In einem kleinen Selbst­porträt liefert ihre Schweizer Kollegin Nora Gomringer einige aphoris­tische Splitter zu ihrem Ver­ständnis von Poesie. Nora Gomringer ist die Tochter von Eugen Gomringer, des Gründer­vaters der experi­men­tellen Poesie, hat sich aber von dem Minimalismus ihres Vaters entfernt in Richtung einer sehr orato­rischen Vortrags­kunst, die von der Direktheit der münd­lichen Rede und der unmittelbar zupackenden Sprachgeste lebt. „Man kann sagen“, so hat Nora Gomringer einmal notiert, „dass mein Gedicht sich nicht lange aufhält, drauflos redet, manchmal auch einfach um des Redens willen, um nicht in Stille eingesperrt zu sein.“ Dass die Stille auch belebende Wirkung haben kann, deutet der Titel eines Aufsatzes von Eugen Gomringer an, auf den sich die Tochter beruft. Er lautet: „Der Dichter und das Schweigen.“

Sinn und Form: H. 6/2010  externer Link
Postfach 210250, 10502 Berlin. 146 Seiten, 9 Euro

Volltext: 6/2010   externer Link
Porzellangasse 11/69, A-1090 Wien. 48 S., 2,90 Euro

Park 64
Tile-Wardenberg-Str. 18, 10555 Berlin. 100 Seiten, 7 Euro

BELLA triste. Nr. 28  externer Link  
Bahrfeldtstr. 1, 31135 Hildesheim, 96 S., 5,35 Euro

Michael Braun    15.12.2010      

 

 
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