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August 2016
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Zeitschriftenlese  –  August 2016
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Es ist heute kaum noch vorstellbar, dass ein „dramatisches Gedicht“ die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit sprengt und die Gesellschaft damit aus den Angeln hebt. Als im Oktober 1965 Peter Weiss' dokumentarisches Theaterstück „Die Ermittlung“ auf einem Dutzend deutscher Theaterbühnen uraufgeführt wurde, war das mehr als nur eine kurzlebige Provokation. Es war ein Schock für die noch junge Bundesrepublik, dass Weiss in seinem nüchternen „Oratorium in elf Gesängen“ die in deutschem Namen begangenen Verbrechen in allen brutalen Einzelheiten vorführte. „Die Ermittlung“ verzichtete auf alle szenischen Mittel und Effekte und präsentierte stattdessen in allen schrecklichen Details die Tortur und die Leiden der Opfer in den Konzentrationslagern der Nazis. Die einzelnen „Gesänge“ geben die Zeugenaussagen überlebender Häftlinge und des SS-Lagerpersonals wieder, von der Ankunft und Selektion an der Rampe von Auschwitz bis hin zur Verbrennung der zuvor Erschlagenen oder durch Giftgas Ermordeten.
  Zehn Jahre nach der „Ermittlung“, im Jahr 1975, hat der amerikanische Dichter Charles Reznikoff ein ähnliches dokumentarisches Verfahren gewählt, um die Logik des Terrors in den Vernichtungslagern zu beschreiben. Sein dokumentarisches Gedicht „Holocaust“ schildert in zwölf Sektionen den Weg der Opfer von der Deportation über die Torturen im Lager bis hin zur Ermordung der Häftlinge. Grundlage der Gedichte sind Mitschriften der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und des Verfahrens gegen Adolf Eichmann. Dem hierzulande noch wenig bekannten Dichter Charles Reznikoff hat nun die Literaturzeitschrift „Schreibheft“ in ihrer aktuellen Ausgabe, der Nummer 87, ein fesselndes Dossier gewidmet. Der Berliner Lyriker Norbert Lange hat aus den verschiedenen Werkphasen Reznikoffs eine Auswahl von dessen Gedichten zusammengestellt und um auf deutsch erstmals veröffentlichte Interviews und Porträts des Autors ergänzt. 1894 im jüdischen Ghetto in Brooklyn geboren, ist Charles Reznikoff als Sohn jüdischer Immigranten in New York aufgewachsen, das er bis zu seinem Tod 1976 kaum je verließ. In den USA bekannt wurde er als ein Protagonist der sogenannten „Objektivisten“, eine literarische Gruppe, die auf Initiative Ezra Pounds 1931 ins Leben gerufen wurde. Die „Präzision im Detail“, die Konzentration auf einen konkreten Gegenstand oder ein Objekt und die Zurücknahme des dichterischen Ichs – all diese Merkmale des Objektivismus hat Reznikoff in seinen Werken umgesetzt. Das eindrucksvollste Beispiel hierfür liefert das über 500 Seiten umfassende Langgedicht „Testimony“, auf deutsch „Testimonium“, das aus dem Studium tausender Prozessakten seinen Stoff bezieht. „Testimony“ collagiert authentische Fälle von Gewaltverbrechen, Rassismus, Misshandlung und Ausbeutung in den Vereinigten Staaten zwischen 1885 und 1915, hinzu treten Berichte von Verkehrs- und Arbeitsunfällen, die ohne jede moralische Wertung referiert werden.
  Im aktuellen „Schreibheft“ sind dem Reznikoff-Porträt zwei Dossiers zu dem österreichischen Schriftsteller Leo Lania und zu dem niederländischen Autor Nescio an die Seite gestellt, die zusammen ein kleines Triptychon unbekannter literarischer Geschichtsschreiber und Wahrnehmungskünstler bilden. Ähnlich wie Reznikoff hat sich der 1896 in Russland geborene, in Wien aufgewachsene und 1961 gestorbene Autor Leo Lania mit den Hauptdarstellern der deutschen Barbarei und den Folgen ihrer Verbrechen beschäftigt. Der überzeugte Kommunist Lania suchte bereits 1923 den Weg in die Höhle des Löwen. Getarnt als Abgesandter des italienischen Faschistenführers Benito Mussolini führte er in München ein Interview mit dem jungen Adolf Hitler, der gerade einen Putsch gegen die demokratische Reichsregierung vorbereitete. Leo Lania stieß mit seinen hellsichtigen Reportagen über die von Hitler ausgehende Gefahr damals auf wenig Resonanz.
  Ein literarischer Außenseiter, der mit seinen zersplitterten Versen die deutsche Unheilsgeschichte in seiner Dichtung reflektiert, ist der Heidelberger Lyriker Rainer René Mueller. Seine Gedichte sind den enigmatischen Fügungen Paul Celans verwandt, sie müssen „hindurchgehen“ – um eine Formulierung Celans aufzugreifen - „durch die tausend Finsternisse todbringender Rede“, um die deutschen Verbrechen benennen zu können. Das aktuelle Heft 13 der poetisch überaus inspirierten Literaturzeitschrift „Mütze“ präsentiert nun neue Gedichte von Rainer René Mueller, der nach seinem 1994 publizierten Gedichtband „Schneejagd“ zwanzig Jahre lang geschwiegen hat, bevor er mit Hilfe des Dichters Dieter M. Gräf ins literarische Leben zurückkehrte. Auch in seine neuen Gedichten trifft eine mörderische Unheilsgeschichte auf ein beschädigtes Ich, das nur unter einem besonderen historischen „neigung-/ :s`winkel“ sprechen kann. Überhaupt liefern die beiden neuen, zeitgleich erschienenen Hefte 12 und 13 der „Mütze“ intensiven poetischen Stoff. Der Literaturwissenschaftler Hans-Jost Frey legt in Heft 12 eine überaus feinsinnige Interpretation eines Gedichts von Samuel Coleridge vor, des englischen Romantikers, der einst behauptete, sein Gedicht „Kubla Khan“ sei im Traum entstanden und er habe es im Wachzustand nur noch protokollieren müssen. In einem großartigen Interview erklärt der amerikanische Lyriker Robert Kelly seine Poetik des „deep image“, des tiefen Bildes, das als ein „immens sinnliches Ereignis“ zu verstehen ist. In einem fabelhaften Essay rekapituliert der Heidelberger Lyriker Hans Thill seine poetische Entwicklung vom anarchistisch motivierten Linksradikalen zum surrealistisch inspirierten Lyriker und Übersetzer. Eine zentrale Rolle in dieser Verwandlung „vom Poetisch-Operativen ins Poetisch-Surreale“ spielt Thills Lektüre des französischen Dichters Guillaume Apollinaire, einer Schlüsselfigur der Avantgardebewegungen. In Heft 13 der „Mütze“ sind auch Gedichte des Schweizer Lyrikers Kurt Aebli zu lesen, die das dichterische Ich an der Grenze der Selbstauflösung zeigen – ein Ich, das von dem Zweifel an sich selbst verschlungen zu werden droht: „Aus so vielem von mir ist / nichts / geworden, und wär es nicht / nichts geworden, so wär es / nicht viel. // Das Rascheln der Blätter / unter meinen Schritten ist nicht / viel. // Aber es ist / von mir.“

Schreibheft 87  externer Link
Rigodon Verlag, Nieberdingstr. 18, 45147 Essen, 230 Seiten, 13 Euro

 

Mütze 12 und 13  externer Link
Urs Engeler, Turnhallenstr. 166,CH-4325 Schupfart, je 50 Seiten, je 6 Euro

 

 
Michael Braun
Bericht
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