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April 2016
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Zeitschriftenlese  –  Dezember 2014
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Der berühmteste Kalendertag in der deutschen Gegenwartsliteratur war bislang der 27. September. Als literarische Protokollantin des 27. September hatte sich im Jahr 1960 die damals noch sehr junge Christa Wolf exponiert, die in einem Tagesbericht sehr detailliert Auskunft gab über den Arbeitsalltag einer engagierten DDR-Autorin im SED-Staat. Viele Jahre später veröffentlichte sie ein ganzes Buch über diesen Jahrestag, ein Tagebuch in Jahressprüngen, das die Aufzeichnungen zum 27. September von 1960 bis zum Jahr 2000 bündelte. Auf diese literarische Selbstvergewisserung und Arbeitsbilanz der Christa Wolf hatte der poetische Fatalist Thomas Brasch bereits 1974 mit einem grandiosen Gedicht geantwortet, das den 27. September als einen Tag der absoluten Ereignislosigkeit beschrieb – und diese Ereignislosigkeit als beglückende Erfahrung feierte.
  Das lyrische Ich beschränkt sich in Braschs Text auf kühle Unterlassungserklärungen. Es gönnt sich weder private Vergnügungen noch nimmt es am gesellschaftlichen Leben in irgendeiner Form teil. Die Inventur des Alltags bringt nur eine Liste mit Negationen hervor. Die Verweigerung jedweden Handelns bezieht sich jedoch nicht nur auf politische Aktivitäten, sondern auch auf den Austausch mit anderen Menschen. Das Ich hat sich in seinem Für-sich-Sein zur vollkommenen Untätigkeit, ja Bewegungslosigkeit und zum Schweigen entschlossen – und genau darin scheint das Glück zu liegen:

Thomas Brasch
Der schöne 27. September

Ich habe keine Zeitung gelesen.
Ich habe keiner Frau nachgesehn.
Ich habe den Briefkasten nicht geöffnet.
Ich habe keinem einen Guten Tag gewünscht.
Ich habe nicht in den Spiegel gesehn.
Ich habe mit keinem über alte Zeiten gesprochen und
mit keinem über neue Zeiten.
Ich habe nicht über mich nachgedacht.
Ich habe keine Zeile geschrieben.
Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht.

Dieser lakonische Tagesbericht von Thomas Brasch war offenbar kein Vorbild für die Autoren, die dem jüngsten Experiment einer literarischen Inspektion eines Kalendertags gefolgt sind. Die Literaturzeitschrift „Akzente“ hatte für ihre aktuelle Ausgabe, die Nummer 1/2016, zwei Dutzend Autoren gebeten, den 10. Dezember 2015 zu beschreiben und dabei die unsensationellen Einzelheiten und Zufälligkeiten ihres Alltags in den Blick zu nehmen. Aus den Protokollen, Berichten, Notizen und Gedichten in diesem Heft soll nun eine „Topographie alltäglichen Daseins“ sichtbar und „fühlbar“ werden. Seit der Umgestaltung der „Akzente“ durch den neuen Hanser-Verlagsleiter Jo Lendle ist dies nun nach einigen thematisch sehr verkrampften Nummern erstmals wieder ein Heft, mit dem man sich länger beschäftigen mag. Dabei ist aufschlussreich, dass die literarischen Tages-Protokolle sofort an Reiz verlieren, wenn die Autoren ihre Tages-Bilanz in narzisstischem Eifer mit einer poetischen Aura ausstaffieren wollen. Wo ein Thomas Brasch noch die vollkommene Passivität an einem gewöhnlichen Tag ausstellte, da findet man in den „Akzente“-Texten nicht selten ein Inventar überbordender Produktivität. Bei Nora Gomringer zum Beispiel sind am 10. Dezember offenbar gleich ein Dutzend Gedichte oder Gedichtentwürfe entstanden, Jan Volker Röhnert erhebt die Tagesdiagnose sofort ins Mythische. „Vor der Haustür beginnt es/ interessant zu werden“, heißt es in seinem Gedicht „Zum Nabel der Erde bei Evessen“, „.egal, wie du es drehst, / es wird eine Odyssee.“ Reizvoller sind die Texte, die sich nicht gleich in mythische Dimensionen begeben, sondern die Profanität des Tagesberichts einräumen. Jan Koneffke schreibt eine berührende Tageschronik, die davon handelt, wie eine Krankheit das Leben dieses Schriftstellers für immer verändert hat. Ganz nebenbei vermerkt Koneffke, dass in einer Tageschronik die Unmittelbarkeitsgeste garnicht möglich ist, sondern selbst eine Tagebuchnotiz immer Fiktion bleibt. Jürgen Becker beginnt seinen Bericht in der Dunkelheit eines Hotelzimmers und seiner Verlorenheit darin. Sein Bericht von seinem Tag in Brüssel, der zu diesem Zeitpunkt vom Terrorismus nur gestreiften Metropole, verzweigt sich in eine fein geflochtene Textur aus punktuellen Wahrnehmungen, Erinnerungen und Reflexionen. Das poetische Bewusstseinsprotokoll von Friederike Mayröcker schließlich zeigt die mittlerweile 91jährige Dichterin auf der Höhe ihres Könnens. Die Form des poetischen Journals, wie sie für das „Alltags“-Heft der „Akzente“ erbeten wurde, kommt der lyrischen Verflechtungs-Technik Mayröckers sehr entgegen. Auch in ihrem „Akzente“-Beitrag führt sie ihre Kunst der poetischen „Illuminationen“ vor: die Imagination eines blühenden Kirschbaums verbindet sich mit Zitaten aus Briefen, mit metaphysischen Splittern und Erinnerungen an die Kindheit.
  Wie der Stoff des Alltags ästhetisch sensibel in Poesie verwandelt werden kann, demonstriert auch ein im Entstehen begriffenes Langgedicht Kurt Drawerts, „Der Körper meiner Zeit“, dessen Schlussteil nun in der aktuellen Nummer 20 des Literaturmagazins „poet“ zu lesen ist. Einige Monate vor seinem Tod hat sich Fritz J. Raddatz enthusiastisch zu diesem Poem geäußert.: Drawert habe, so Raddatz, in „brennenden Bildern“ das „Elend der Suche nach Glück“ beschrieben: „ein großer Gesang von der Bitterkeit des Dunklen, in dem wir selbst in vermeintlich hellen Stunden versinken“. Tatsächlich oszilliert das lange Gedicht Drawerts mit seinem ruhigen, fließenden und dann wieder stockenden Rhythmus zwischen Elegie, Sarkasmus, Pathos und Lakonie. Damit die ergreifende Klage über den Verlust einer Liebe nicht ins Sentimentale kippt, konterkariert der Autor seinen Gesang mit allerlei slapstickhaften Genreszenen aus dem Schriftstelleralltag. So verbindet sich die Liebesklage mit scharfkantigen Beobachtungen zu den Absurditäten unserer digitalen Erregungsgesellschaft und den Lächerlichkeiten unseres Glaubens an das Glück: „Und es / kommen die Körper nicht zueinander und entgehen ihrem ver-/ werflichsten Verrat, der falschen Erzählung. – Als ich zurück-/ kam, war mir die Kraft nicht gegeben, auf die Bilder im Fernse-/ hen zu blicken, die auf mich zurückblicken würden, denn auch / das Sehen ist eine Weise der Schuld. Die Elenden, denen immer / ein Buchstabe fehlt – nichts kann mein Unglück für sie tun.“ Auch zu dem umfangreichen „poet“-Dossier mit Gesprächen zum Thema „Literatur und Wettbewerb“ hat Drawert einen Beitrag geliefert, mit schönen Sottisen gegen den blinden Positivismus der Facebook-Kultur. In einem anderen Gespräch wird die junge Schriftstellerin und Choreographin Tabea Xenia Magyar zu ihrem Verständnis von Literatur und ihrer Arbeit mit dem sogenannten „Lyrikkollektiv G13“ befragt. Hier verblüfft die Nonchalance, mit der die Autorin einen Antagonismus zwischen einem traditionalen und einem modernen Verständnis von Autorschaft konstruiert. Magyar betont die Vorzüge der kollektiven Autorschaft, die Arbeit in der Gruppe, im „Kollektiv“ eben, die Hierarchien einebnet und damit eine Dynamik des offenen literarischen Austauschs freisetze. Und dann folgt der Satz: „Wir sind basisdemokratisch organisiert und setzen uns immer wieder damit auseinander, dass sich alle sicher genug und frei fühlen, ihren Standpunkt innerhalb der Gruppe zu vertreten.“ Man liest das mit einer gewissen Rührung, denn das „basisdemokratische“ Prinzip war bislang immer nur ein ideologisches Surrogat politischer Gruppierungen, das regelmäßig zugunsten des verpönten Individualismus über Bord geworfen wurde. Und gerade bei solchen Formen radikaler Subjektivität, wie sie Gedichte verkörpern, ist ein Austreiben des Individuellen, der unverwechselbaren Kontur und der ganz eigenen Stimme zugunsten einer fiktiven Kollektivität schwer vorstellbar.
  „Ja, wo leben wir denn eigentlich?“ In einer medial aufgeheizten Gesellschaft, in der in immer kürzeren Abständen Reizthemen durch alle Kanäle geschickt werden, um sofort wieder zu zerfallen? Um einen klaren, von Verschwörungstheorien freien Blick auf unsere Gegenwart zu bekommen, hat die Schriftstellerin Kathrin Röggla einige Kollegen um Diagnosen gebeten, die nun im aktuellen Heft der „Neuen Rundschau“, dem Heft 1/2016, veröffentlicht sind. Ihr Einladungsbrief, verfasst im Sommer 2015, sprach noch von den Umwälzungen der Finanzkrise und den Problemen des Turbokapitalismus, die nun im Jahr 2016 virulenten Themen von Flucht, Migration und Asyl kam darin noch garnicht vor. „Immer wieder kommen mir Zweifel an dem, was wir Gegenwart nennen.“ So Kathrin Röggla – und diese Zweifel sind auch nach der Lektüre der „Neue Rundschau“-Beiträge nicht ausgeräumt. Von der Gattung, vom Genre und der thematischen Orientierung her sind diese Texte vollkommen disparat. Am meisten beeindruckt die todtraurige Geschichte der ukrainischen Autorin Tanja Maljartschuk über das Zerwürfnis mit ihrer russischen Lehrerin an der Universität, die sich immer stärker in eine kultische Verehrung Wladimir Putins flüchtet. Ein fast aus der Zeit gefallenes Experiment hat der Künstler Olaf Nikolai abgeliefert. Er präsentiert eine semantisch flimmernde Text-Collage für den venezianischen Komponisten Luigi Nono, in der Zitate aus dem „Kapital“ von Karl Marx mit Sequenzen aus Gedichten von Inger Christensen verknüpft werden.
  Ein elegantes Spiel mit einem Klassiker der Kunstgeschichte betreibt in der neuesten Ausgabe, der Nummer 11 der Literaturzeitschrift „Mütze“ der Dichter und Übersetzer Christian Filips. Er hat Gedichte des Renaissance-Genies Michelangelo ausgegraben, die den Maler und Bildhauer nicht als Heros formvollendeter Kunst zeigen, sondern als Experten für das Obszöne, Unflätige und Rohe. Michelangelo selbst, so Filips, habe die Vorstellung des erhabenen Künstlers und Schöpfergotts ausgehebelt – durch Lässigkeit. So heißt es in einem Gedicht in frivoler Schnoddrigkeit: „Vorm Hause liegt der Unrat von Giganten; / Wer Trauben oder Abführmittel fraß, / Scheißt hier herum und kotzt an alle Kanten. // Die Seele hat vom Leib dieses Vergnügen: / Er könnte sie, wenn sich der Darm entleert, / Auch nicht mit Käs und Nudeln wieder kriegen.“
  Zum Schluss noch ein Hinweis auf ein „Jahrbuch zur Literatur der fünfziger Jahre“, das zur Pflichtlektüre erhoben werden sollte für alle, die sich mit der deutschen Literatur nach 1945 beschäftigen. Die Jahresschrift nennt sich nach einem Roman von Wolfgang Koeppen „treibhaus“. Sie räumt in aller Gründlichkeit auf mit den Mythen und Legenden, die sich um die Autoren und Werke der sogenannten Inneren Emigration und des Exils ranken. In der aktuellen Nummer 11 von „treibhaus“ blättert zum Beispiel die Literaturwissenschaftlerin Hiltrud Häntzschel in der Spruchkammerakte des Schriftstellers Erwin Guido Kolbenheyer. Kolbenheyer, ein von den Nazis hochdekorierter Autor, war bereits 1930 im faschistischen „Kampfbund für deutsche Kultur“ aktiv und schrieb später zwei Huldigungsgedichte auf Hitler. In der ihm eigenen Arroganz erklärte er sich 1948 vor der Spruchkammer für unschuldig und über alle Vorwürfe erhaben. Bezeichnenderweise war es der Schriftsteller Herbert Hupka, der später als Aktivist der Vertriebenenverbände gegen die Ostpolitik Willy Brandts Stimmung machte, der über Kolbenheyer ein wenig schmeichelhaftes Gutachten verfasste: „Wie der Arzt durch einen Missgriff sein Berufsansehen geschädigt hat, so hat Kolbenheyer durch sein Schriftstellertum die deutsche Sprache verunreinigt und sie zur Dienerin der Diktatur erniedrigt.“ Die These freilich, dass die westdeutsche Literatur nach dem Ende des NS-Staats den Völkermord an den Juden kollektiv verdrängt habe, wird in einem Beitrag im „treibhaus“ eindrucksvoll widerlegt. Hier erinnert Ulrike Böhmel Fichera daran, dass der protestantische Pfarrer und Schriftsteller Albrecht Goes bereits 1950 in seiner Erzählung „Das Brandopfer“ das Jahrhundertverbrechen der Nazis thematisiert hat. Freilich mit dem Ziel, einzig den Parteifunktionären und der SS die Verantwortung für die Barbarei zuzusprechen und dagegen das Gros der deutschen Bevölkerung zu entlasten. So mündet die Erzählung „Das Brandopfer“ in den Versuch der Protagonistin, ihr Leben hinzugeben als Sühneopfer für die Verbrechen der Nazis. So blieb dann doch eine positive Figur übrig: die Chimäre vom „anständig gebliebenen“ Deutschen, der sich von persönlicher Schuld frei weiß.

Akzente, Heft 1/2016  externer Link
Carl Hanser Verlag, Postfach 860420, 81631 München. 116 Seiten, 9,60 Euro

 

Poet, Nr. 20  externer Link
poetenladen Verlag, Blumenstraße 25, 04155 Leipzig. 230 Seiten, 9,80 Euro

 

Neue Rundschau, Heft 1/2016  externer Link
S. Fischer Verlag, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt a.M., 312 Seiten, 15 Euro

 

Mütze #11  externer Link
Urs Engeler, Turnhallenstr. 166, CH-4325 Schupfart, 52 Seiten, 6 Euro

 

Treibhaus, No. 11  externer Link
Edition Text+Kritik Levelingstr. 6a, 81673 München, 410 Seiten, 39 Euro

 

 
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