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Juni 2014
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Zeitschriftenlese  –  Juni 2014
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


„Bekenntnisse“ sind unter den jungen deutschen Autoren der Gegenwart absolute Mangelware. Der große Auftritt einer literarischen oder philo­sophi­schen Subjek­tivi­tät, wofür einst die „Confes­siones“ des Kirchen­lehrers Augustinus das Modell bildeten, kann unter den Bedingungen meta­physischer Erschöp­fung, wie sie für den heutigen Litera­tur­betrieb kenn­zeich­nend sind, nicht mehr statt­finden. Der moderne Autor ist für „Be­kennt­nisse“ nicht mehr zu­ständig, allen­falls für punk­tuelle Per­spek­tiven und das elegante Mischen der Diskur­se und routi­nierte Verwalten von Prunk­zitaten. Als kürz­lich die Lite­ratur­strate­gen des Hildes­heimer Instituts für krea­tives Schreiben ganz anti-zyk­lisch „Bekennt­nisse“ auf die Agenda ihres Festivals „Prosa­nova“ setzten, war die Ver­legen­heit groß. „Wozu sollten sich die jungen Autoren denn auch be­ken­nen?“, fragt denn auch ein zen­traler Essay in der aktuel­len Sonder­aus­gabe der ins­tituts­eige­nen Zeit­schrift „BELLA triste“. Die Lite­ratur, so resü­miert hier der Lite­ratur­wissen­schaft­ler Christian Schärf, begeg­net den jungen Autoren um die Drei­ßig „als Ge­schäfts­mo­dell, nicht mehr als exis­ten­zielle Heraus­forde­rung, nicht mehr als Abgrund, in dem man scheitern kann.“ Und was hätten die jungen Auto­ren dem allge­meinen Zeit­be­wusst­sein auch ent­gegen­zu­setzen? Inwiefern können sie über­haupt so etwas wie eine Be­wusst­seins­heraus­forde­rung der Gegen­wart produ­zieren?
  Schaut man nun auf die Statements, die elf junge Autoren im Sommerheft von „BELLA triste“ abge­liefert haben, so kommen einem unwill­kürlich die Erkennt­nisse des immer noch aktuellen „Medi­zynikers“ Gottfried Benn in den Sinn, die er im August 1950 in einem Vor­trag im Nordwest­deut­schen Rund­funk formu­liert hatte. Im Rückblick auf sein großes Vor­bild Nietzsche beschrieb Benn damals die Vor­aus­set­zun­gen der Kunst­pro­duktion, die Grund­lagen der „Ausdrucks­welt“ so: „Der Mensch ohne mora­lischen und philo­sophi­schen Inhalt, der den Form- und Aus­drucks­prinzi­pien lebt. Es ist ein Irrtum anzu­neh­men, der Mensch habe noch einen Inhalt oder müsse einen haben. Der Mensch hat Nah­rungs­sorgen, Fami­lien­sorgen, Fort­kommens­sorgen, Ehr­geiz, Neurosen, aber das ist kein Inhalt im meta­physi­schen Sinne mehr.“ Mit dieser Diagnose, die auch in „BELLA triste“ zitiert wird, hat Benn im Grunde auch eine aktuel­le lite­rarische Lage­analyse für das Jahr 2014 vor­gelegt. Denn der junge Autor von heute schreibt eben­falls als ein „Mensch ohne mora­li­schen und philo­sophi­schen Inhalt“, der allen­falls all­tags­prag­ma­tische Sorgen hat, aber kein großes meta­physisches Thema mehr – und leider auch nur noch Rudi­mente von Aus­drucks­kunst.
  Sehr auffällig ist die Ratlosigkeit und ästhetische Schwäche, die bei den befragten Autoren in „BELLA triste“ auf der Suche nach „Be­kenntnissen“ offenbar wird. Den erzähle­rischen Realis­mus scheut man aus Angst, der Gestrig­keit bezichtigt zu werden, gefragt sind dagegen „hybride Text­körper“ und „polytope Cross­over-Ver­schaltungen“, wie Christian Schärf beobachtet hat.
  Ebenfalls in „BELLA triste“ zeigt sich die Literatur­kritikerin Ina Hartwig irritiert durch die Sehnsucht der jungen Autoren nach einem permanenten Community-Erleben in einer auf Dauer gestellten „Party“. Ein seltsam diffuses „Wir“-Gefühl geistere, so Hartwig, durch die „Be­kennt­nisse“ der jungen Lite­ratur, „eine Mischung aus Jargon und Poesie“. In dem interes­santes­ten Beitrag des Heftes konfrontiert Florian Kessler, selbst ein Absolvent des Hildes­heimer Insti­tuts und mittlerweile auch ein gefragter Lite­ratur­kritiker, die Bekennt­nis-Abstinenz seiner Kollegen mit der Klan­destinitäts-Poetik des mittler­weile vergessenen Schrift­stel­lers Gert Neumann. Weder in der DDR, die den 1942 geborenen Wortartisten Neumann schikanierte, noch in der Bun­des­republik fand die komplizierte Wort-Artistik Neumanns die ihr gebührende Aner­ken­nung. Gert Neu­manns mittler­weile ver­griffene Prosa­bücher „Elf Uhr“ oder „Die Klan­des­tinität der Kes­selreiniger“ um­kreisen in großen Satz­schlei­fen die Schwierig­keiten des Schrift­stel­lers, über­haupt zu einer ange­mes­senen, von Stereotypen freien Sprache zu finden. Seine Prosa­sprache hat nichts vom Mit­tei­lungs­drang deutscher Durch­schnitts­epik – sie verstört durch ihre ver­schlun­gene Syntax und den fast schon quälenden Zweifel an der Mög­lich­keit des Sprechens. Diese komplexe sprach­refle­xive Literatur hat in Deutsch­land keinen Ver­leger mehr. Florian Kessler resü­miert lapidar auch das Fehlen dieser Erfah­rung unter seinen jungen Kol­legen: „Die Erfah­rung des Schei­terns, jene Neumann-Erfahrung des ver­zwei­felten Ver­stummens.“
  Tatsächlich sind es solche großen Autoren wie Gert Neumann oder der 2001 verstorbene Klaus Schlesinger, die für ihren lite­rari­schen Eigen­sinn im Osten wie im Westen mit unter­schied­lichs­ten Strate­gien der Ausgren­zung bestraft wurden.

Von der schlimmsten Zeit der Verfemung im Leben Klaus Schlesingers, der 1980 aus der DDR in den Westen gegangen war, berichtet nun ein Dossier in der aktuellen Ausgabe, dem Heft 3/2014 der Literatur­zeit­schrift „Sinn und Form“. Er habe lange vergeblich versucht, sein „Doppelleben als Ostler und Westler zu vereinigen“, notiert Klaus Schlesinger in seinen Tage­buch­auf­zeich­nungen vom Okto­ber und November 1991, die erstmals in „Sinn und Form“ ver­öffent­licht werden. Es war die Zeit kurz nach der Enthül­lung von Sascha Ander­sons Spitzel-Tätigkeit für die Staats­sicher­heit, eine Phase der politi­schen Erregung, da sich Künstler und Intel­lektuel­le der unter­gegan­genen DDR zuweilen gegenseitig der Kolla­bora­tion mit dem SED-Staat bezichtigten. Durch ein von der Dichterin Helga Novak lanciertes Gerücht war Klaus Schlesinger plötz­lich in den Verdacht geraten, ebenfalls der Stasi gedient zu haben. Die Behauptung war frei erfunden, ein böswilliger Racheakt der Dichterin, die mit Schlesinger ein paar Jahre liiert gewesen war und ihm nach der Trennung mit Vergeltung gedroht hatte. Schle­singer verweist in seinem Tagebuch auf die „Diskre­panz zwischen Talent und Cha­rakter“ bei Helga Novak, ein Charak­terzug, der in diesem Fall fast existenz­ver­nich­tende Folgen für den denun­zierten Schle­singer hatte. Helga Novak selbst war ursprünglich eine begeis­terte Jung­kom­munis­tin, fiel aber wegen ihrer politischen und ästhe­tischen Reni­tenz bei den DDR-Kultur­politi­kern rasch in Ungnade. So kam es, dass die Dichterin 1966, zehn Jahre vor der Biermann-Ausbür­gerung, als erste Schriftstellerin der DDR ihr Land verlas­sen musste – und ihre märkische Heimat ein Viertel­jahr­hundert lang nicht mehr betreten durfte. Seither fand diese Dichterin keinen Ruhe­punkt mehr, zog sich in die polnischen Wälder zurück, bis sie vor ein paar Jahren schwer­krank nach Deutschland zurück­kehrte, an den öst­lichen Stadtrand Berlins, wo sie im Dezem­ber 2013 starb. Gert Loschütz hat ihr in „Sinn und Form“ einen einfühl­samen Nachruf gewidmet und an das präg­nante Credo der Dichterin erinnert: „Ich wurde unge­bunden“, schrieb sie nach ihrer Tren­nung von der Partei, „ unbe­herrscht, unwillig, unhöf­lich....un­zuge­hörig, un­verant­wort­lich, unge­nießbar ...“ Im Blick auf ihre Denun­ziation Klaus Schle­singers bleibt hinzu­zufügen: Leider blieb sie auch in jeder Hinsicht „unver­söhn­lich“.

Unversöhnlichkeit ist in Fragen der literarischen Form jedoch eine Tugend. Wie weit eine produktive ästhe­tische Renitenz gehen kann, dokumentiert mal wieder die aktuelle Nummer 9 der Zeitschrift „Idiome“. Die von Florian Neuner heraus­gegebenen „Hefte für neue Prosa“ ver­sammeln drei beson­ders mar­kante Exem­pel expe­rimentel­ler Prosa­kunst­werke, die zunächst einmal die konven­tionel­le Roman­form aus den Angeln heben müssen, um die Sprache in Freiheit zu setzen. Im Gespräch mit dem öster­reichi­schen Künstler und Schrift­steller Walter Pilar, der sein Prosa-Projekt „Lebenssee“ buch­stäb­lich als „Wandel-Altar“ angelegt hat, formu­liert Florian Neuner so etwas wie das Evan­gelium expe­rimentel­ler Pro­sak­unst. „Das Her­stellen einer (epischen) Totalität geht heute wahr­schein­lich nur über extreme Hetero­genität.“ Das Extrem­fall lite­rari­scher Hetero­genität analy­siert dann der angriffs­lustige Essayist Sebastian Kiefer im Blick auf das monumen­tale Prosa­werk von Ulrich Schlot­mann, „Die Freuden der Jagd“. Schlot­manns Elf­hundert Seiten-Werk gilt als Muster­bei­spiel eines Erzählens, in dem es kein ordnendes Zen­trum mehr gibt, kein Oben und Unten, sondern nur eine kunstvolle Kompo­sition von Rede­flos­keln, Zi­taten, Erin­nerun­gen und Echos. Der dritte im Bunde dieser ästhe­tisch dissi­denten Prosakunst ist der aus Völ­klingen stam­mende und in Berlin lebende Dichter Konstantin Ames, der hier unter dem Titel „Tage, da letzt­malig geweint wurde“ einen staunens­werten Aus­schnitt aus einem neuen Roman­projekt vorlegt.
  „Also was ist der Expressionismus?“, fragte vor sechzig Jahren der bereits zitierte Gott­fried Benn, „Ein Konglo­merat, eine See­schlange, das Unge­heuer von Loch Ness, eine Art Ku-Klux-Klan?“ Eine gültige Antwort auf diese Frage schien 1919 Kurt Pinthus´ berühmte Anthologie „Menschheits­däm­merung“ zu geben, die bis heute als kanonische Anthologie des Expressionismus gilt. In der aktuellen Aus­gabe des „Hugo Ball-Alma­nachs“ ist nun nach­zulesen, welche verhee­renden Fehl­deu­tungen sich mit der „Mensch­heits­däm­merung“ ver­bunden haben. In einer rezep­tions­geschicht­lichen Unter­su­chung zur „Wirk­macht“ der „Mensch­heits­däm­merung“ analysiert die Literatur­wissen­schaft­lerin Sandra Beck die ästhe­tischen Ver­zer­rungen, die von dieser Antho­logie stimu­liert wurden. Kurt Pinthus´ Auswahl konzen­trier­te sich auf den pathe­tischen messia­ni­schen Expres­sionis­mus – und unterschlug die sprach­revolu­tio­nären und gesell­schafts­kriti­schen Schreib­ansätze. Die unmit­tel­baren Folgen dieser Aus­blen­dung benennt der Redak­teur des Hugo Ball-Alma­nachs, der Lite­ratur­wissen­schaft­ler Eckhard Faul, in seiner Ein­lei­tung. Hugo Ball und Emmy Hennings, die Gründer­figuren des Dadais­mus, sind in der „Mensch­heits­däm­merung“ ebenso wenig ver­treten wie ihre kultur­revo­lutio­nären Kollegen Ferdi­nand Harde­kopf, Richard Huelsen­beck oder Franz Richard Behrens. Und das hat nicht nur die öffent­liche Aner­ken­nung von Hugo Ball und Emmy Hennings ver­zögert, sondern auch die Wahr­neh­mung ihrer ex­pres­sio­nis­ti­schen Texte blo­ckiert. Der neue Hugo Ball-Alma­nach setzt gegen solche Ver­kennung seine auf­regenden lite­ratur­archäo­logi­schen Aus­gra­bungen. Im Zentrum steht der erst­mals ver­öffent­lichte Brief­wechsel zwischen dem un­ga­rischen Bohemien Emil Szittya mit dem Dichter­paar Hugo Ball und Emmy Hennings. Der durch Europa vaga­bun­die­ren­de Szittya teilte mit Hugo Ball in den Jahren 1915/1916 eine anarchis­tische Grund­hal­tung und ver­suchte später, nach dem Tod Balls, Emmy Hennings bei der Publi­kation von Ge­dicht­bänden zu unter­stützen. Ein weiterer frei­schwe­bender Intel­lektuel­ler aus den akti­vistischen Jahren Hugo Balls war der umtrie­bige öster­reichi­sche Anarchist Pierre Ramus, der im Hugo Ball-Alma­nach von Walter Fähn­ders porträ­tiert wird. Pierre Ramus schrieb 1928 einen Nach­ruf auf Ball, der als reprä­sen­tativ für die linke Hugo Ball-Rezeption gelten kann. Denn auch von Ramus wird zu­tiefst bedauert, dass sich der unbe­rechen­bare Ex-Dadaist nach seinen gesell­schafts­kriti­schen Jahren als Redak­teur der „Freien Zeitung“ in die Mystik zurück­zog. Mit seiner einzig­artigen Ver­bin­dung anarchis­ti­scher und christ­licher, dadais­tischer und mys­tischer Impulse hat sich Hugo Balls Werk bis heute allen Verein­nahmungs­ver­suchen entzogen.

BELLA triste 39 (2014).  externer Link
Neustädter Markt 3-4, 31134 Hildesheim. 96 Seiten, 5,35 Euro.

Sinn und Form, H. 2/2014.  externer Link
Redaktion, Postfach 21 02 50, 10502 Berlin. 130 Seiten, 9 Euro.

Idiome No 7 (2014)  externer Link
c/o Florian Neuner, Lübecker Str. 3, 10559 Berlin. 9,90 Euro.

Hugo Ball-Almanach 2014 (Neue Folge 5)  externer Link
Edition Text+Kritik, München 2014. 252 Seiten, 18,50 Euro.

Michael Braun    18.06.2014   

 

 
Michael Braun
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