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Bernhard Seiter

Elf Finger

Einsame Stadtabenteurer

Bernhard Seiter | Elf Finger
Bernhard Seiter
Elf Finger
Roman
Picus Verlag 2007
Dem fünfjährigen Jakob steht das größte Abenteuer seines Lebens bevor: Allein darf er elf Stationen mit der U-Bahn fahren. Sein Kindermädchen setzt ihn in den Zug, seine Mutter erwartet ihn an der elften Haltestelle. Die fünf Finger jeder Hand muss Jakob ausstrecken, und am Ende noch einen dazu. Der Untergrund der Stadt nimmt Jakob mit dieser Sicherheit auf – und gibt gleichzeitig seiner wartenden Mutter das Gefühl der Angst und des Verlusts. Aber nicht lange: „Janas Gedanken flohen; sie hatte Jakob vergessen.“

Ihre Gedanken fliehen zu dem Obdachlosen, den sie am Morgen gesehen hat und dessen Hose sie flicken möchte, während er bei ihr zu Hause unter der Dusche steht; sie fliehen zu Michael, der einmal an ihrer Seite lebte und mit ihren zwei Söhnen nicht zurecht kam; sie fliehen zu Paul, der früher jeden Nachmittag mit Jakob verbrachte und den sie insgeheim verdächtigte, ihr gegenüber ernsthafte Absichten zu hegen. Während Jana sich die Zeit bis zu Jakobs Ankunft mit Erinnerungen vertreibt, liegt Paul im Bett und spielt sich seinen eigenen Tod vor, bekommt Besuch von Kater Bruno, der früher bei Frl. Slanar lebte, und belauscht seine Nachbarin dabei, wie sie gegen sich selbst würfelt und gewinnt.

Elf Finger von Bernhard Seiter ist ein Großstadtmosaik, das von der Einsamkeit und Anonymität in der Metropole in kurzen, lose miteinander verknüpften Abschnitten berichtet. Lakonisch und fragmentarisch sind Seiters Beschreibungen, Auslassungen und Zeitraffer sein bevorzugtes Stilmittel. Das Erlebnisse von Kater Bruno fasst Seiter auf elf Seiten zusammen: Bruno wird nach einer wunderschönen Kindheit auf dem Dorf in die Stadt gebracht, dort von einem anderen Straßenkater in blutige Kämpfe verwickelt, von Frl. Slanar hingebungsvoll gepflegt und schließlich von Paul grausam abgemetzelt. Minutiös bis sadistisch sind Seiters Beschreibungen des Katzenlebens in der Großstadt. Subtiler erzählt sind die Kapitel über Jakobs allein erziehende Mutter und den arbeitslosen und einsamen Paul. Die Verletzungen, die der Alltag Jana und Paul zufügt, sind nicht harmloser als die, die das Schicksal für Bruno vorgesehen hat. Dafür sind Janas und Pauls Wunden weniger sichtbar – und beide haben kein Frl. Slanar, das sie mit Kalbsfleischbröckchen füttert und ihnen eine wunderschöne Katzendame zur Verfügung stellt.

Immerhin der fünfjährige Jakob weiß, wie er allein in der Großstadt zurechtkommt: „Solange er mitzählte, konnte ihm nichts passieren; es versicherte ihn gegen den Unglücksfall …“ Die einfachen Regeln der Kindheit erleichtern es, die Kontrolle zunächst aufrecht zu erhalten. Dass auch Jakob später die Kontrolle verliert und nur durch Zufall zurück zu seiner Mutter findet, liegt an der Unberechenbarkeit der Stadt: Voller unheimlicher Menschen ist die U-Bahn. Kuscheltierwerfende Italiener, vermeintlich Blinde und obszöne Grabscher finden sich da. Erst als er nach seinem bisher größten Abenteuer am Abend zu Hause im Bett liegt, kann Jakob wieder sprechen. Die erste Lektion des Stadtlebens hat er gelernt: Alleinsein scheint nur auf den ersten Blick der bessere Zustand. In Wirklichkeit benötigt jeder seinen Beschützer.
Bernhard Seiter, geboren 1964 in Bad Ischl, lebt als freier Autor in Wien. Co-Drehbuchautor von Fegefeuer (1987), Drehbuchautor von Schwarzfahrer (1997), Mitherausgeber der Anthologie John Cassavetes (1993), Redaktionsmitglied der Zeitschrift Meteor (1996 bis 1998), Mitbegründer und Redakteur der Zeitschrift RAY (2000 bis 2003). 2002 erschien seine Erzählung Solokabine.

Katharina Bendixen     22.11.2007

Katharina Bendixen
Prosa
Reportage
Gespräch