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Marcelo Figueras
Kamtschatka
Roman
Nagel & Kimche 2006
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Ein zehnjähriger Junge und die argentinische Militärdiktatur von 1976 – ein weiteres Mal werden in dieser literarischen Saison gewaltige politische Ereignisse aus der Perspektive eines Kindes beschrieben.
Kamtschatka von Marcelo Figueras ist jedoch ein besonderes Beispiel für dieses fiktive Spiel mit der kindlichen Sicht.
Der zehnjährige Harry muss mit seinen Eltern und seinem fünfjährigen Bruder, dem Zwerg, nach der Errichtung der Militärdiktatur ganz plötzlich aus Buenos Aires fliehen und in einem Landhaus untertauchen. Harry lässt seinen besten Freund Bertuccio zurück, der Zwerg seinen Plüschgoofy und den liebsten Schlafanzug. Den Kindern wird eingeschärft, nicht ans Telefon zu gehen, unauffällig zu leben und sich die neuen Namen, die sich die Familie geben muss, gut einzuprägen. Sie müssen nicht mehr in die Schule gehen, und in der reichlichen Freizeit sehen sie fern und beerdigen Kröten, die im Swimmingpool vor dem Haus in großer Zahl ums Leben kommen. Harrys Eltern arbeiten weiter in der Untergrundbewegung gegen Videlas Regime und versuchen, dies vor den Kindern geheim zu halten. Aber genau wie der Tod der Kröten eine unterschwellige Bedrohung des kindlichen Paradieses bedeutet, tun dies auch die heimlichen Telefonate der Eltern.
Regelmäßig spielen Harry und sein Vater TEG, ein strategisches Brettspiel, in dem man die Weltherrschaft an sich reißen muss. In diesem Spiel hat das Land Kamtschatka eine besondere Bedeutung, ganz im Norden, ein kleiner, ruhiger Rückzugsort. Kamtschatka wird mehr und mehr zu Harrys innerem Versteck, an dem er besseren Zeiten harrt. Denn als die Eltern beschließen, dass die Brüder wieder eine Schule besuchen sollen, erhöht sich für die Kinder der Druck, dem sie ausgesetzt sind: Sie dürfen nur unter ihren neuen Namen agieren und von ihrer wahren Existenz nichts verraten. Harry freundet sich mit Señor Globulito an, dem Skelett der Schule für den Biologieunterricht, denn das ist verschwiegen.
Harry ist im Gegensatz zu Aleksandar aus
Wie der Soldat das Grammofon repariert oder Oskar Schell aus
Extrem laut und unglaublich nah kein naiv-altkluges Kind, sondern ein abgeklärter und ernster Junge. Zusätzlich gewinnt Figueras der kindlichen Perspektive eine besondere Facette ab, indem er nicht lediglich aus der Vergangenheit berichtet, sondern häufig Bezüge zur Gegenwart und der Sicht des erwachsenen Harry herstellt. Die staunenden, verständnislosen Kinderaugen sind zwar allzeit präsent, werden jedoch nicht in den Vordergrund des Geschehnisse und der Erzählperspektive gestellt. Harrys Stellung in der Familie als der größere Bruder, der vernünftig und verständnisvoll sein muss, spielt die größere Rolle in Figueras' Beschreibungen.
Gleichzeitig erzählt Harry nicht nur von den unmittelbaren Ereignissen, sondern denkt mit einer kindlichen Philosophie ständig weiter: „In fast allen Sprachen sind die Wörter, die die Grundbestandteile des Lebens bezeichnen, ähnlich oder haben den gleichen Klang.
Madre ist
'ummm auf Arabisch,
Mutter auf Deutsch,
mat auf russisch. [...] Wörter hingegen, die menschliche Erfahrungen bezeichnen wie die Angst klingen nirgendwo gleich.
Angst ist nicht wie das englische
fear oder das französische
peur. Mir gefällt der Gedanke, dass wir uns mehr in den guten Erfahrungen als in den schlechten ähneln und das folglich stärker ist, was uns verbindet, als das, was uns trennt.“
Dieses kindliche Hinterfragen macht einen großen Teil der Faszination von
Kamtschatka aus. Gleichzeitig begeistert Figueras' Beschreibung des Familiengefüges der untergetauchten Familie, die ständigen Versuche der Eltern, ihre Kinder in einer Zeit und unter Umständen zu schützen, in der ein Schutz unmöglich scheint, die verzweifelte Aufrechterhaltung des Familienfriedens in kriegerischen Zeiten.