|
Juan José Millás
Das war die Einsamkeit
Roman
Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991
Dein verwirrender Name
Roman
edition suhrkamp 1990
|
Harmlos beginnen die Romane von Juan José Millás. „Elena war dabei, sich im Badezimmer die Haare von den Beinen zu entfernen, als das Telefon klingelte und ihr mitgeteilt wurde, soeben sei ihre Mutter gestorben.“ heißt es in
Das war die Einsamkeit. Ein grandioser Einstieg in einen Roman – und eine grandiose Täuschung dazu. Denn Millás' Romanplots sind lediglich Mittel zum Zweck: Nicht die Handlung steht im Vordergrund, sondern der Prozess des Schreibens und mit ihm die sinnstiftende Funktion der Sprache. Der Tod der Mutter in Das war die Einsamkeit entwickelt sich für Elena zu einer Suche nach ihrer eigenen Identität: Beim Ausräumen der mütterlichen Wohnung findet sie sechs Tagebücher. Elena beschließt, selbst ein Tagebuch zu beginnen. Aber nicht der Inhalt ihrer Aufzeichnungen steht im Vordergrund, sondern die Funktion des Schreibens: „Obwohl ich es mir fest vorgenommen habe, habe ich seit mehreren Tagen nichts mehr in dieses Tagebuch geschrieben, und das gibt mir das seltsame Gefühl, nicht zu existieren.“ Um sich existent zu fühlen, beauftragt Elena einen Detektiv, sie selbst zu beschatten. Nur durch die Berichte des Detektivs hat Elena das Gefühl, wirklich am Leben zu sein: „Da ich den Detektiv beauftragt habe, sehr subjektiv zu sein, sagt er Dinge über mich, die ich nicht wußte, und das amüsiert mich nicht nur sehr, sondern stellt mich auch wieder ein wenig her, artikuliert mich, gibt mir ein einheitliches, festes Bild meiner selbst zurück, denn jetzt sehe ich, daß mein vorheriges Unbehagen zu einem Stück daher rührte, daß ich mich als zerstückeltes Wesen wahrnahm, dessen Interessen verzettelt waren oder an mich nicht betreffenden Orten lagen.“ Das Konstrukt Identität löst sich im Laufe des Romans vollkommen auf: Der Wechsel zwischen einer auktorialen und einer Ich-Perspektive, gemischt mit den Beschreibungen des Detektivs, lassen schließlich offen zutage treten, dass die Wahrnehmung der eigenen Identität nicht möglich ist und die Identität lediglich eine Erfindung darstellt.
Juan José Millás, geboren 1946 in Valencia und als Journalist in Madrid tätig, ist ein hierzulande fast unbekannter Autor, in seiner Heimat Spanien wurde er jedoch bereits mit zahlreichen Preisen wie dem Premio Primavera und Premio Nadal, der wichtigsten spanischen Literaturauszeichnung, bedacht. Vier seiner Romane sind ins Deutsche übersetzt, rund zehn weitere sind bisher unübersetzt geblieben. Das Schlagwort zur Entschlüsselung von Millás' Romanen, nicht nur für
Das war die Einsamkeit, sondern auch für seine weiteren Romane, ist die Metafiktion, das Spiel mit und die Thematisierung der eigenen Fiktion. Metafiktion findet sich nicht nur im ersten modernen Roman,
Don Quijote von Cervantes, sondern auch in zahlreichen Werken von
Der Name der Rose bis hin zu
Der Schatten des Windes; in Millás Romanen wird sie jedoch zu einer nahezu unglaublichen Perfektion gebracht: Es sind Kriminalgeschichten, in denen die Sprache und die Fiktion die Täter sind, die der Leser zu entlarven hat. Millás erzählt Geschichten, die er im selben Atemzug sofort hinterfragt und als Fiktion demaskiert. In
Zwei Frauen in Prag etwa beschreibt der Erzähler einem befreundeten Schriftsteller seine Erlebnisse der letzten Tage, die Gegenstand des Romans sind, woraufhin dieser missfällig erwidert: „Die ganze Geschichte hört sich auch viel zu sehr nach einem Roman an.“ Und später sagt eine andere Protagonistin: „Welch schöner Titel für einen Roman!
Zwei Frauen in Prag.“
|
Juan José Millás
Zwei Frauen in Prag
Roman
München: dtv 2005
|
Millás Romane bestechen nicht nur durch psychologische genaue Beschreibungen der Lebenswelten seiner Protagonisten, sondern vor allem durch ihren spielerischen Umgang mit den Thesen der wichtigen poststrukturalistischen Philosophen, insbesondere von Jean Baudrillard oder Jacques Dérrida. Die Agonie der Realen, ein wichtiges Schlagwort in Baudrillards Simulationstheorie, findet in Millás' Romanen statt, ohne dass die Protagonisten oder der Erzähler schwere Gedanken wälzen. Wenn etwa eine der Protagonistinnen in
Zwei Frauen in Prag sich hinter verschiedenen Identitäten versteckt und sich jeden Tag eine neue Lebensgeschichte ausdenkt, ist ihr Bezug zur Realität und ihre eigene Identität vollkommen aufgelöst und zerstört: Es gibt keine nachvollziehbaren Persönlichkeiten, keine Wirklichkeit mehr, die Realität ist aufgehoben, verschwunden, sie ist tot. In
Das war die Einsamkeit heißt es: „Als sie jedoch auf die Straße trat und die Passanten beobachtete und die Ampeln ansah und dem schwerfälligen Autoverkehr zuschaute, spürte sie erneut, daß es sich um eine zum Tode verurteilte Wirklichkeit handelte.“
Und in einem Nebensatz verrät Millás auch, wodurch die Realität, die empirische Wirklichkeit ersetzt und verdrängt wurde: „Das Wirkliche wird allmählich unsichtbar, während das Fiktive so behandelt wird, daß man es mit Händen greifen kann.“ Das Fiktive, auf das Millás sich hier bezieht, sind jedoch nicht Romane, sondern es sind die Medien, die Journalisten, die „bei der Bevölkerung die Gewohnheit erzeugen, die Wirklichkeit zu konsumieren.“ Diese neue Wirklichkeit ist jedoch kein Ersatz für die, die verloren gegangen ist; sie ist vielmehr ein künstlich erzeugtes Produkt, das Ausschnitte aus einem komplexen Konstrukt zeigt, das aufgrund seiner Komplexität weder zu greifen noch zu verstehen ist und im Grunde nicht einmal existiert. Eine objektive Realität gibt es nicht mehr, sie wird immer erst im Moment des Beschreibens produziert: „… genau wie viele Augenzeugen sich nicht darüber im Klaren sind, daß sie die Realität, von der sie ihrer Meinung nach nur Zeugnis ablegen, damit erst erschaffen.“
|
Juan José Millás
Die alphabetische Ordnung
Roman
München: dtv 2003
|
Dabei gibt Millás auch ganz nebenbei einen Teil seiner Poetologie preis:
In Zwei Frauen in Prag erklärt einer seiner Protagonisten, ein Schriftsteller: „Ich glaube, die Kunst des Schreibens besteht darin, herauszufinden, was die Wörter zu sagen haben, und nicht so sehr darin, seine eigenen Gedanken zu Papier zu bringen.“ Die Wörter und ihre sinnstiftende Funktion spielen in
Die alphabetische Ordnung die hervorstechende Rolle. Der junge Julio beschäftigt sich intensiv mit einem Konversationslexikon. Nach und nach machen die Stichwörter ihm jedoch Angst: „An manchen Abenden versuchte ich mir vor dem Einschlafen eine Welt ohne Wörter vorzustellen; ich malte mir aus, daß sie uns in alphabetischer Reihenfolge verließen und vom Buchstaben A nur noch die Wörter ab
Attentäter übrigblieben, so daß uns die
Aale, die
Abkürzungen, die
Alten, der
Antagonismus, die
Anwälte, der
Asphalt und der
Atem verlorengegangen waren. Der
Antagonismus war mir egal, das Wort kannte ich sowieso nicht; schlimm war aber, daß uns außer
Argentinien und
Amerika auch die
Arme, die
Algen und die
Alpen abhanden gekommen waren. Eine Naturkatastrophe also, für die ich verantwortlich war.“ In einem Fiebertraum landet Julio schließlich in einer Parallelwelt, in der zuerst alle gedruckten Werke auf rätselhafte Art und Weise wegfliegen, schließlich einzelne Buchstaben verschwinden, mit den Buchstaben die Wörter und schließlich die Dinge selbst. In
Dein verwirrender Name denkt die Protagonistin über den Sinn der Wörter nach: „Gestern abend stellte ich während des Strickens fest, daß, wenn man abstrakt und konkret vermischt, abskret und kontrakt dabei rauskommt, aber wenn man Tod und Leben mischt, Leid und Toben; dagegen bei auf und ab, ab und auf. Probleme habe ich mit Himmel und Hölle, was Hömmel und Hille ergibt, und das bedeutet nichts. Aber Herz und Schmerz ergibt Herz und Schmerz. Na ja.“ Millás' Protagonisten – und nicht nur sie, sondern auch die Leser – sind in einer Welt verloren, die nicht mehr greifbar ist und in der selbst die Wörter keine Orientierung mehr geben können, da auch sie ihren Sinn langsam verlieren. Die Figuren selbst sind jedoch auf die Sprache unbedingt angewiesen: Sie sind Schriftsteller, Journalisten oder Lektoren, und mit dem Verlust der Sprache verlieren sie nicht nur den Bezug zur Wirklichkeit, sondern auch ihre eigene Profession.
Trotz dieser philosophischen Dimensionen sind Millás' Romane nicht nur leicht lesbar, sondern oft auch extrem komisch. In
Die alphabetische Ordnung zum Beispiel wundert sich Julio ernsthaft, warum die Welt in einem englischen Konversationskurs so viel einfacher ist als die, die er tagtäglich vor sich sieht. Auch ohne die vorherige Lektüre von Baudrillard, Dérrida und Co. erschließt sich Millás' Werk mit Leichtigkeit. Juan José Millás ist ein Schriftsteller mit einer ganz eigenen philosophisch-
leichtblütigen Poetologie.