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Tippgemeinschaft
Leipzig 2007
DLL |
Landpartie
Hildesheim 2007
Glück u. Schiller |
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Tippgemeinschaft |
Landpartie |
Wie wäre es mit einem kleinen literarischen Test? »Die Gehsteige waren gefroren und rissig, hier und da floss das Eis schon als Wasser in Rillen und Rinnsteine. Das Sonnenlicht flirrte, weiße und graue Wolken hatten darüber hinweggewischt. Der Himmel entleerte sein Licht.« An welcher Schreibschule ist dieser Textanfang wohl entstanden? Leipzig? Hildesheim? Oder doch kein Schreibschultext? Und wie ist es mit dem hier: »Eine Tasse, ein Glas, eine Schüssel, ein Löffel, es klingelt. Vom Geschirr tropft der Schaum, ich trockne meine Hände an der Jeans ab. Auf dem Flur sehe ich kurz in den Spiegel, die Ringe unter den Augen lassen sich schon seit ein paar Wochen nicht mehr wegschminken.« Schreibschule? Und wenn ja: Hildesheim oder Leipzig?
Einmal jährlich geben die Anthologien des Deutschen Literaturinstituts Leipzig (DLL) und des Studiengangs Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus Hildesheim einen Einblick in das Spektrum des kreativen Schaffens ihrer Studenten. Die erste heißt
Tippgemeinschaft und ist weiß, grün und blumig, die zweite
Landpartie und ist grau und voller kleiner Piktogramme, und obwohl es fast unmöglich ist, einzelne Texte einer der beiden Schulen zuzuordnen, lassen sich doch recht schnell Tendenzen erkennen, die die beiden Anthologien voneinander unterscheiden. Von einer Institutprosa kann weder in der
Tippgemeinschaft noch in der
Landpartie die Rede sein. Austauschbare Texte finden sich in keinem der beiden Bücher, sondern junge und teilweise schon ältere Autoren mit eigenen Stimmen oder auf dem Weg dahin.
Schlägt man die
Landpartie auf, hat man das Gefühl, Einblick in eine Werkstatt zu bekommen. Die Hildesheimer Texte sind unfertiger und weniger glatt als die Leipziger Texte. Dies mag einerseits am Alter der Hildesheimer Jungautoren liegen – der Großteil ist zwischen 1982 und 1985 geboren, während sich in Leipzig auch Endzwanziger und Anfangsdreißiger
tummeln –, andererseits an den zum Teil ausgefallenen Themen: Von einem Kriegsberichterstatter in Angola ist in einem Text die Rede, ein anderer Text beschreibt die sexuelle Ausbeutung eines Juden durch eine Aufseherin im Konzentrationslager. Manche Erzählungen gehen inhaltliche Wagnisse ein, die sprachlich und dramaturgisch nur schwer umzusetzen sind. Aber es ist das Wagnis, das zählt: Die Ecken und Kanten der Hildesheimer Texte sind charmant bis reizvoll und lassen eine Entwicklung hin zu einem eigenen Stil erkennen oder zumindest erahnen. Überraschend sind die inhaltlichen und sprachlichen Experimente der Hildesheimer auf jeden Fall: Sportsonette stehen neben poetischen Mintstroems, ein Hypertext neben einer Kathrin-
Passig-
Parodie. Hier wird ausprobiert, und die Versuche lohnen sich zu entdecken.
Ein Werkstattcharakter findet sich in der
Tippgemeinschaft weniger, ebenso wie man fast vergeblich nach Experimenten oder poetologischen Versuchen Ausschau hält. Hier sind die Texte eindeutig fertig, poetisch oder nüchtern, sentimental oder cool, sich immer ihrer selbst bewusst und mit souveräner Stimme erzählt. Die Texte sind glatt und geschliffen, manchmal fast zu glatt. Auffällig ist die Vermeidung der Perspektive der eigenen Generation, gleichsam eine Erweiterung der eigenen Erfahrung und der Erfahrung des Lesers: Ungefähr ein Drittel der Prosatexte sind aus der Sicht von Kindern oder alten Menschen geschrieben. Interessant ist der Einblick in das dramatische Schaffen am DLL, von dem man selten etwas mitbekommt: Zwei Autoren sind mit Dramatik vertreten.
In beiden Anthologien finden sich Texte, die begeistern und große Erwartungen wecken: Die Erzählung
Der Engel des Leipzigers Christopher Weber, die davon berichtet, wie der Ich-
Erzähler im Garten einen Engel findet, der aufgrund einer Flügelamputation depressiv wird, ist eine ebenso erstaunliche und überzeugende Parabel wie
Das Licht des Schnees des Hildesheimers Tilman Strasser, der eine Familie im eigenen Haus einschneien und sie das Geschehen vollkommen teilnahmslos beobachten lässt. Die Erzählung
In der Normandie war es immer schön des DLL-
Autors Gregor Guth um den Tod eines Freundes ist ebenso beeindruckend und schonungslos wie
Liebesgrüße aus Moskau der Hildesheimerin Rebecca Anna Fritzsche um eine demente Großmutter und die familiäre Abhängigkeit der Enkelin.
Carolin Gruber aus Hildesheim nimmt sich in ihren Übungen für den Möglichkeitssinn vor: »Einen Roman schreiben, der die Handlung nicht benennt. Ohne Verben erzählen, was passiert ...« – ein literarisches Versprechen für die Zukunft? Fest steht: Sicher nicht von allen Autoren der Anthologien, aber doch von einigen ist viel zu erwarten. Und der Test vom Anfang? Schreibschulanfänge sind es natürlich. Welcher Anfang jedoch von welcher Schule stammt, muss schon in den Anthologien selbst nachgelesen werden. Dabei ist noch mehr junge Literatur zu entdecken, die sich vielleicht bald zwischen zwei eigenen Buchdeckeln findet.