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Matthias Nawrat
Gespräch mit Katharina Bendixen für den poetenladen
»Sprache ist extrem vergänglich«
Gespräch |
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Matthias Nawrat in poet nr. 17
Thema der Gespräche in poet nr. 17 ist Literatur und Vergänglichkeit
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Matthias Nawrat , geboren 1979 in Opole?/?Polen, siedelte als 10-Jähriger mit seiner Familie nach Bamberg um. Er studierte Biologie in Freiburg und Heidelberg, danach am Schweizer Literaturinstitut in Biel und lebt heute in Berlin. 2012 erschien sein Debütroman Wir zwei allein, 2014 der Roman Unternehmer. Matthias Nawrat erhielt unter anderem den MDR-Literaturpreis (2011), den Kelag-Preis bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur (2012) und den Förderpreis zum Adelbert-von-Chamisso-Preis (2013).
Katharina Bendixen: Beim Thema Vergänglichkeit habe ich zuerst an deinen zweiten Roman Unternehmer gedacht, der ist ja eine Dystopie. Aber dann habe ich deinen ersten Roman noch einmal gelesen und festgestellt, dass es darin viel mehr um Vergänglichkeit geht. Ist das richtig oder habe ich Wir zwei allein jetzt zu sehr durch die Vergänglichkeitsbrille gelesen?. Matthias Nawrat:
Ich glaube, weder im ersten noch im zweiten Buch steht das Thema Vergänglichkeit für mich im Vordergrund. Vergänglichkeit ist etwas, was mich beim Schreiben grundsätzlich begleitet. Ich schreibe aus Liebe zu meinen Figuren. Ich möchte sie kennenlernen, sie festhalten, sie nicht wieder in der Schwärze verschwinden lassen. In dieser Liebe ist die Vergänglichkeit aber immer schon enthalten.
K. Bendixen: Ich hatte dieses Gefühl, weil die beiden Hauptpersonen von Wir zwei allein für die zwei Pole der Vergänglichkeit stehen: Theres frönt einer schrägen carpe diem-Mentalität, während der Erzähler, der in sie verliebt ist, für eine Art memento mori zu stehen scheint.
M. Nawrat: Vielleicht kann man das wirklich so lesen. Der Erzähler reflektiert das ja auch an einer Stelle, als er sagt, dass er nun dreißig ist und einen geordneten Rückzug antreten sollte. Mir ging es aber eher um einen anderen Gegensatz, um die Welt mit ihrer Multioptionalität, die uns vorflunkert, alles sei möglich, und demgegenüber der Erzähler mit seiner Einstellung, dass das alles nichts bringt. Alles vergeht, also braucht er nichts zu tun. Insofern stimmt es schon, dass Vergänglichkeit eine gewisse Rolle spielt. Theres ist für den Erzähler dann etwas, was dieses Gefühl der Vergeblichkeit oder Vergänglichkeit mildert. Er liebt sie oder vergöttert sie, und dadurch gibt es etwas, was er doch festhalten will.
K. Bendixen: Allerdings nur so lange, wie sie nicht will.
M. Nawrat: Ja, es geht eher um das Verliebtsein in das Verliebtsein. Der Erzähler fantasiert lieber, als dass er Theres besitzt. Die ganze Zeit will er sie für sich gewinnen, und als er sie hat, verliert sie sehr schnell ihren Reiz. Im Roman gibt es dann den Punkt, an dem Theres die Initiative übernimmt. Sie merkt, dass der Erzähler das Interesse an ihr verliert, und beginnt zu handeln. Plötzlich verschwindet sie, kommt ebenso plötzlich zurück und will mit ihm in dieses Haus ziehen. Und er lässt sich von ihr überrumpeln. Diese Passivität könnte eine Strategie gegen die Vergänglichkeit sein, eine Art passiver Protest. Ihm ist klar, alles ist temporär und völlig umsonst, deshalb trifft er keine Entscheidungen.
K. Bendixen: Das Haus ist ja auch ein Bollwerk gegen die Vergänglichkeit, so wie jeder Konsum.
M. Nawrat: Natürlich, das ist ein Festkrallen. Es gibt im Buch diese Reflexionen über das Irokesendasein. Der Erzähler schreibt, dass er hier zwar lebt, dass sich die Landschaft aber schon sehr bald nicht mehr an ihn erinnern wird. Menschen verschwinden, nur die Landschaft bleibt, diesen Schmerz über die eigene Vergänglichkeit spürt der Erzähler. Das ist ein Thema, das mich reizt, und es ist ja auch ein großes Thema der Weltliteratur. Viele Autoren schreiben aus dieser Spannung heraus, zum Beispiel Marcel Proust mit seiner Suche nach der verlorenen Zeit.
K. Bendixen: In der letzten Szene von Wir zwei allein schaut der Erzähler auf Freiburg hinunter, und die Stadt brennt. Ist das bereits die Ankündigung von Unternehmer?
M. Nawrat: Retrospektiv kann man das vielleicht sagen. Man kann die brennende Stadt auch als Fantasie des Erzählers interpretieren oder als eine Metapher für das, was ihm im Buch widerfahren ist. Aber ich glaube, die Verbindung liegt auf einer anderen Ebene. Im Nachhinein hatte ich das Gefühl, dass der Bruch mit dem Schwarzwald oder dem Dasein oder unserer heutigen Welt in Wir zwei allein noch zu subtil ist. Mir war darin zu viel Poetisches oder Idyllisches zurückgeblieben. Ich wollte weitergehen, wollte diese Idylle noch mehr brechen. Das habe ich mit Unternehmer versucht.
K. Bendixen: Unternehmer spielt ebenso im Schwarzwald, allerdings in einem Schwarzwald voller Industrieruinen. Bad Krozingen und Rottweil sind verlassen, in Freiburg kampieren die Obdachlosen in langen Reihen vor dem Bahnhof. In dieser Welt lebt eine Familie davon, Elektroschrott zu sammeln und zu verkaufen. Dabei begibt sie sich ständig in Lebensgefahr. Berti, der Sohn, hat bereits einen Arm verloren. Was meinst du, warum gerade – zumindest im deutschsprachigen Raum – so viele Dystopien geschrieben werden?
M. Nawrat: Das hat sicher etwas damit zu tun, dass sich die Stimmung verändert hat. Auch wenn ich damals nicht gelebt habe, glaube ich, dass das Lebensgefühl in den Fünfzigern und Sechzigern anders war. Damals gab es die ungetrübte Erwartung einer guten Zukunft, von Wohlstand und Reichtum, zumindest im westeuropäischen Raum. Heute dagegen beherrscht uns eine unbestimmte Angst. Wir wissen, dass der Kapitalismus so nicht weitergehen kann, dass irgendetwas passieren wird. Mich würde interessieren, ob die Leute in Osteuropa diese Angst genauso empfinden. Ich kann mir vorstellen, dass das Lebensgefühl dort nicht so negativ ist. Die Menschen verlieren Wohlstand, und das ist schlimmer, wenn man sich reich und sicher gefühlt hat. Sicherheit ist etwas Wichtiges. Unsere Angst rührt auch daher, dass die Sicherheit schwindet.
K. Bendixen: Andererseits wissen die Leute in Osteuropa aus eigener Erfahrung, dass der Kommunismus keine Alternative zu sein scheint.
M. Nawrat: Genau das ist ein Grund dafür, dass unsere Angst so unbestimmt ist. Hätte man noch die Utopie des Kommunismus’, könnte man sagen: Wir wissen, was zu tun ist, und das tun wir jetzt. Aber nach dem Scheitern dieser Utopie haben wir das Gefühl, zu unserer Gesellschaftsform gibt es keine Alternative, und trotzdem funktioniert sie so nicht.
K. Bendixen: Was für eine Welt hast du in Unternehmer entworfen, was ist das für ein Ort, was für eine Zeit?
M. Nawrat: Diese Frage stelle ich mir so nicht. Für mich ist das eine literarische Wirklichkeit, die Kristallisation eines Grundgefühls in einer literarischen Sphäre. Einiges gibt es nicht mehr, zum Beispiel die Illusion des materiellen Hochglanzes, dieses immer weiter, immer schöner, immer besser. Wodurch das verschwunden ist, interessiert mich aber nicht. Ich habe in dem Roman unbewusst vieles zusammengebracht, was meiner Meinung nach in unserer Gesellschaft bereits angelegt ist. Das fängt bei Kindern an, die Elektroschrott ausweiden und sich dabei vergiften. Das passiert vielleicht nicht in Deutschland, aber das gibt es ja auf der Welt.
K. Bendixen: Ich hatte das Gefühl, in der Familie existiert dieser Wachstumsillusion noch. Die glauben, dass sie nur genug Elektroschrott sammeln müssen, dann können sie nach Neuseeland auswandern. Beziehungsweise stellt sich die ganze Zeit die Frage, ob sie das glauben.
M. Nawrat: Die Frage ist, ob der Vater das glaubt. Ich denke schon, dass er das tut. Er lügt sich das selbst vor. Deshalb hat er am Ende ja auch diese Depression. Er kann diese Lüge vor sich selbst nicht mehr aufrechterhalten. Und ich glaube, auch Lipa, die Tochter, hat im Laufe des Romans eine Einsicht.
K. Bendixen: Sehr eindrücklich fand ich die Szenen in der Schule. In einer Industrieruine gab es einen schweren Unfall, Berti liegt im Krankenhaus, der Vater hat sich zurückgezogen, Lipa soll von einem Tag auf den anderen die Schule besuchen. In diesen Szenen wird dem Leser klar, dass es in ihrer Kindheit bestimmte Dinge nicht gab. Zum Beispiel hat sie nie gelernt, was Spielen ist.
M. Nawrat: Ich glaube, dass Kinder heute schon sehr früh mit einer Ideologie gefüttert werden. Das beobachte ich zumindest an den Kindern, die mich umgeben. Geigenspiel, Chinesischunterricht, diese Kinder haben ein völlig durchoptimiertes Leben. Wahrscheinlich glauben die Eltern, dass sie dadurch am besten auf das Leben vorbereitet werden. Das ist sicher auch an ein bestimmtes Milieu gebunden. Aber zu meiner Kindheit ist das kein Vergleich.
K. Bendixen: Obwohl wir als Kinder auch indoktriniert wurden, mit Friedenstauben und Pionierhalstüchern. In Polen war das sicher ähnlich.
M. Nawrat: Das passiert immer, in jeder Gesellschaftsform, zu jeder Zeit in der Geschichte. Deshalb ist es mir auch wichtig zu betonen, dass ich keine Gesellschaftskritik geschrieben habe. Es ist ein Buch über unsere Zeit, und ich will auf keinen Fall etwas sagen wie: Früher war es besser. Eigentlich wollte ich nur die heutige Rhetorik enthüllen. Vielleicht wollte ich zeigen, dass das ebenfalls eine Indoktrination ist, so wie es schon immer Indoktrinationen gab. So funktioniert Gesellschaft: Es gibt ein Bild, das sich von Generation zu Generation fortpflanzt.
K. Bendixen: Ich finde, das enthüllt sich auch sehr gut. Deshalb irritiert es mich ein bisschen, dass dein Buch so erfolgreich ist. Du stellst unsere Gesellschaft völlig in Frage, und alle sind begeistert. Es ist ja nicht so, dass der Kulturbetrieb anders wäre. Wir haben auch unser Unternehmertum mit bestimmten Gesetzen und einem bestimmten Vokabular.
M. Nawrat: Das ist für mich ein Merkmal unserer Gesellschaftsform: Jede Kritik wird begrüßt und assimiliert, und dann klopft die Gesellschaft sich selbst auf die Schulter. Als Beispiel fällt mir Michael Moore ein, seine kritischen Filme über die Waffenindustrie in den USA oder das dortige Gesundheitssystem. Kritik wird kommerzialisiert und dadurch ihrer Schärfe beraubt. Das könnte bei meinem Buch vielleicht auch der Fall sein. Wer Unternehmer gut findet, schließt sich selbst aus der Kritik aus. Er sagt: Ich befürworte diese Kritik, ich sehe das nämlich genauso. Aber wenn das alle sagen, gibt es plötzlich nichts mehr, wogegen das Buch sich richten kann. Aber wie gesagt, es war wirklich nicht meine Intention, eine Gesellschaftskritik zu schreiben. Und die Leute finden ja nicht nur den Inhalt gut. In den Rezensionen geht es oft um die ästhetische Dimension.
K. Bendixen: Was hat dich beim Schreiben am meisten interessiert? Kannst du sagen, was zuerst da war, das Thema, die Kinderperspektive, die verspielte Sprache?
M. Nawrat: Zuerst hatte ich die Familie in ihrer Tätigkeit im Kopf, darin lag bereits der gesellschaftliche Verfall. Und von Anfang an hatte ich diesen kindlichen Blick, der nicht so verstellt ist wie der Blick eines Erwachsenen. Das meine ich auch auf sprachlicher Ebene. Wir sind von vielen Begriffen schon so lange umgeben, dass wir gar nicht mehr sehen, was sie eigentlich mitteilen. Der kindliche Blick sieht über diese Worthülsen hinaus. Es hat mich sehr fasziniert, mit diesem Blick die Welt neu zu beleben, die Welt der Wörter, aber auch die Welt der toten Materie, des Elektroschrotts. Das war auch der Motor beim Schreiben. Der Roman ist aus diesem Tonfall, aus dieser Perspektive heraus entstanden.
K. Bendixen: Schreibst du eigentlich gern? Trotz seines ernsten Themas liest sich Unternehmer so, als hätte das Schreiben dir sehr viel Spaß gemacht.
M. Nawrat: Ich muss mich fast jeden Morgen zum Schreiben zwingen. Ich muss mir sagen: Du setzt dich jetzt hin und schreibst. Aber gelegentlich passiert es dann beim Schreiben, dass etwas von außen für mich übernimmt. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber eine Art Selbstständigkeit der Sprache oder der Figuren tritt in Gang, oder vielleicht zwingt mich auch die Oberflächenspannung der Sätze dazu, mitzunotieren, wohin die Sätze wollen, also jeweils einen nächsten Satz zu schreiben und so weiter. Und dann ist es überhaupt kein Zwang mehr und es entsteht Glück. Das sind sehr kurze Momente. Denn meistens kippt es ins andere Extrem, in eine Art Nicht-Mehr-Nachkommen, Hinterher-Hecheln, wie in einem dieser Alpträume, in denen man rennt, aber niemals ankommt.
K. Bendixen: Und der Kampf gegen die eigene Vergänglichkeit, ist das für dich auch ein Grund zu schreiben?
M. Nawrat: Dieser Gedanke spielt sicher eine Rolle, auch bei dem, was ich vorher gemacht habe. Biologie habe ich aus dem Ehrgeiz studiert, Wissenschaftler zu werden, eben weil Wissenschaftler etwas zurücklassen. Beim Schreiben schwingt dieser Aspekt mit. Die Frage ist, ob ich weiterschreiben würde, wenn ich wüsste, dass alles – sagen wir – zehn Jahre später vernichtet würde. Wahrscheinlich schon, denn ich schreibe auch aus anderen Gründen. Aber in meinen Texten kommuniziere ich mit anderen Schriftstellern, mit lebenden, mit toten. Ich habe die vage Idee eines Orts, an dem ihre Gedanken und ihre Texte leben, so wie Karl Poppers Satz, dass einmal entdeckte Einsichten für immer entdeckt sind. Irgendwo dort sehe ich mich auch. Dass etwas zurückbleibt, ist mir also schon wichtig.
K. Bendixen: Verschwindet vieles während des Arbeitsprozesses? Hebst du verschiedene Versionen auf oder zählt nur das Endprodukt, das fertige Buch?
M. Nawrat: Es verschwindet sehr viel, weil ich beim Schreiben nicht so richtig plane, sondern ausprobiere. Ich schreibe mit der Hand, deswegen habe ich die alten Fassungen in meinen Notizbüchern, genau wie mein Tagebuch. Das alles noch zu besitzen, gibt mir ein ruhiges Gefühl. Sobald ich an einem konkreten Text zu arbeiten beginne, tippe ich den handschriftlichen Entwurf in den Computer. Dann gibt es immer eine Datei, an der ich arbeite, eine Rohdatei und sehr viele Zwischenstufen. Dadurch wird alles kurzlebig und auch etwas unübersichtlich. Viele handschriftliche Notizen tippe ich niemals ab, die Arbeitsdatei schreibe ich immer wieder um. Manchmal komme ich auf alte Fassungen zurück und suche dann in dem alten Material. Aber ich sehe da nicht so richtig durch, und wenn das Buch publiziert ist, ist dieses Chaos aus alten Fassungen nur noch so eine Art Friedhof.
K. Bendixen: Ist das nicht auch erleichternd zu wissen, dass all diese Fassungen irgendwann kein Gewicht mehr haben? Vergänglichkeit hat etwas Furchteinflößendes, aber auch etwas Erleichterndes.
M. Nawrat: Natürlich. Es wäre furchtbar, wenn die Dinge immer wiederkommen würden. Jede Handlung bekäme ein schreckliches Gewicht. Dinge verschwinden, und am Ende lässt man ganz los. Der Tod hat auch etwas Befreiendes, so stelle ich mir das zumindest vor. Es gibt diesen Moment, in dem man begreift, jetzt verschwinde ich, jetzt ist alles unwiederbringlich. Das kann natürlich auch eine Erleichterung sein. Aber vielleicht ist es sogar die Vergänglichkeit, die mich immer wieder zur Arbeit treibt, die Angst, wenn ich heute nicht schreibe, dann ist vielleicht etwas Wichtiges verloren. Sprache ist ja extrem vergänglich, sie bewegt sich mit der Zeit. Jedes neue Jetzt drückt sich in die Sprache ein, und ich kann nichts anderes tun, als mich jetzt hinzusetzen und aufmerksam zu sein und etwas davon aufs Papier zu retten.
K. Bendixen: Vielen Dank für das Gespräch.
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Katharina Bendixen
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