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Katharina Bendixen
Ausgehverbot
Seit dem Tag, an dem wir unsere Stadt verloren, klingelt jede Nacht dieser Junge an meiner Tür. Seine Augen sind dunkel und seine Haare blond, und er hält mir ein Pappschild entgegen, auf dem Worte in einer fremden Sprache stehen. Bittend schaut er mich an, so lange, bis das Licht im Hausflur erlischt. Ich betrachte den Jungen durch den Spion. Nie klingelt er bei meinen Nachbarn, nur bei mir. Ich weiß nicht, was der Junge will, vielleicht Essen, vielleicht Geld für Waffen und Munition. Mache ich mich verdächtig, wenn ich ihm etwas gebe? Und wenn ich ihm nichts gebe, tritt er dann eines Tages meine Tür ein, schlägt mich zusammen und lässt mich halbtot zurück?
  Seit wir unsere Stadt verloren, sind viele Wochen vergangen. Ich lebe gut von den Konserven, die regelmäßig geliefert werden. Wenn es ganz still im Hausflur ist, öffne ich die Tür und ziehe den Karton hinein. Es ist verboten, die Wohnung oder gar das Haus zu verlassen. Ich weiß nicht, was denen passiert, die es dennoch tun. Ich weiß auch nicht, wann meine Nachbarn ihre Kartons in die Wohnungen ziehen. Früher haben wir oft ein paar Worte gewechselt, über die Dinge, die es im Supermarkt nicht mehr zu kaufen gibt, über den Kinderwagen, der in unserem Hausflur angezündet wurde, und sogar darüber, was passieren wird, sollten die Garden tatsächlich bis in unsere Stadt gelangen. Im Süden hatten sie die Kontrolle bereits übernommen. Einmal, als es plötzlich einen Knall gab – einen Knall wie von einem Schuss oder einer Detonation –, begann die Frau aus dem Erdgeschoss zu weinen. Auch nachdem sich herausgestellt hatte, dass nur der Wind unter die Plane eines Baugerüsts gefahren war, konnte sie sich nicht beruhigen, und ich hielt sie lange im Arm. Wenn ich sie jetzt im Hausflur träfe, ich wüsste nicht, ob ich sie grüßen würde.
  Der Tag, an dem wir unsere Stadt verloren, begann wie jeder andere. Kinder tobten in den Schulhöfen, Angestellte rauchten vor den Büros, alte Menschen warteten an den Supermärkten. Es war nicht so, dass wir nicht damit gerechnet hatten, aber die Sirene überraschte uns doch. Für mehrere Minuten durchdrang uns ihr Klang, dann forderte eine Lautsprecherstimme uns auf, unverzüglich nach Hause zu gehen. Alles, was wir bei uns hatten, sollten wir mitnehmen, vor allem unsere Ausweise nicht vergessen. Ich hatte oft überlegt, wie die Garden die vielen Menschen in dieser Stadt kontrollieren wollten. Ich hatte nicht diese Ruhe erwartet, mit der sich alle durch die Stadt bewegten, ich hatte nicht erwartet, dass auch ich mich fügen würde. Zu meiner Wohnung lief ich zwischen Männern und Frauen, die keine Miene verzogen. Sie trugen ihre Rucksäcke auf den Schultern und ihre Aktentaschen in den Händen. Niemand redete, selbst die Kinder gingen stumm an der Seite ihrer Eltern. Zu Hause merkte ich, dass Fernseher und Telefon abgestellt waren. Weder Rechner noch Handy fanden ein Netz. Noch am Abend informierte uns die Lautsprecherstimme, dass wir uns ruhig verhalten, dass wir die Fenster nicht öffnen, keinen Kontakt zu unseren Nachbarn aufnehmen sollten. Ich dachte, wenn es gegen die Garden einen Aufstand gibt, schließe ich mich an. Aus Tagen wurden Wochen, und es gab keinen Aufstand, oder ich erfuhr nichts davon.

Die Worte auf dem Schild des Jungen wechseln, seit kurzem schreibe ich sie auf. Neben die Wohnungstür, auf den Tisch mit dem toten Telefon, habe ich einen Notizblock gelegt, auf dem ich nachts jeden einzelnen Buchstaben notiere. Vielleicht lerne ich seine Sprache, wenn ich nur genügend Material sammle. Es gibt Momente, da befürchte ich, dass auf dem Schild doch meine Sprache steht – eine Sprache, die ich vergessen habe. Aber dann schlage ich ein Buch auf und verstehe alles, oder ich lege eine der Minidisks ein, die mit den Konserven geliefert werden: Ben Hur, Frühstück bei Tiffanys – Klassiker dieser Art, ich weiß nicht warum.
  Wenn ich weder lese noch Filme schaue, betrachte ich die leere Straße. Eigentlich darf außer den Lieferanten niemand unterwegs sein, dennoch gibt es minimale Veränderungen: Eine Autoscheibe ist eingeschlagen, ein Fahrrad lehnt an der Wand, einmal liegt ein kleiner Teddybär auf der Kreuzung, und vor allem verschwindet nach und nach das Baugerüst. Ich weiß nicht, ob es auf Anordnung der Garden entfernt wird oder ob vielleicht der Junge es abmontiert, ob er die Stäbe in einen Hinterhof trägt und Waffen daraus baut, Waffen, mit denen er die Garden vertreiben will. Auch in der Straße tauchen Lücken auf, es fehlen Pflastersteine, die in Fäusten liegen könnten. Nie sehe ich Menschen, nicht den Jungen, niemanden, weder einen von uns noch einen von den Garden. Vielleicht wäre es nicht schwer, sich einem Aufstand anzuschließen, vielleicht müsste man nur nachts durch die Hinterhöfe streifen.

Ich könnte dem Jungen von meinen Lebensmitteln abgeben, die Rationen sind großzügig bemessen. Ich habe auch Bargeld in der Wohnung, Scheine und Münzen, die ich vielleicht nie wieder benötige. Ich glaube jedoch, dass der Junge wegen etwas anderem kommt. Er muss einen festen Wohnsitz haben, denn er ist sauber, und seine Kleidung wechselt. Nur sein Blick wechselt nicht, er bleibt bittend, dunkle Augen, in denen sich das Flurlicht spiegelt. Manchmal frage ich mich, ob die anderen die Klingel hören, und dann frage ich mich, ob sie mich den Garden melden würden, und dann frage ich mich, wie man die Garden überhaupt erreicht.
  Die aktuelle Minidisk enthält auch Nachrichten: Die Wirtschaft wächst, der Regenwald schrumpft, im Nahen Osten tobt weiterhin Krieg. Über die Garden erfahre ich nichts, wie immer wird nur vor konspirativen Gruppen gewarnt. Unter den Nachrichten läuft derselbe Text wie immer: Es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Das Ausgehverbot dauert nicht mehr lange an. Es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Das Ausgehverbot dauert nicht mehr lange an.
  Ich bin froh, als ich sehe, dass unsere Stadt nach wie vor eine Fußballmannschaft besitzt. Die Spieler kämpfen wie früher, und sie freuen sich noch immer über jedes Tor. Wahrscheinlich wissen sie mehr als wir, wissen, dass dieser Zustand bald ein Ende haben wird. Alles andere, denke ich, würde man ihnen anmerken. Sie würden ohne Ehrgeiz spielen, oder die Torschützen würden ihr Trikot ausziehen und das T-Shirt darunter der Kamera präsentieren: Verlasst die Häuser! Schließt euch dem Aufstand an! Nein, es wird keinen Aufstand geben. Bald dürfen wir unsere Wohnungen wieder verlassen, und dann finden wir heraus, dass es Jugendliche waren, die mit den Stäben des Gerüsts die Autoscheiben eingeschlagen haben, Jugendliche, die sich nur etwas beweisen wollten.

Ich schaue gerade Casablanca, als das Schreien beginnt. Ich renne zur Wohnungstür und presse das Auge so fest an den Spion, dass ich mir die Stirn stoße. Ich sehe nichts, ich höre nur dieses Schreien, Wortfetzen, die ich nicht zusammenfügen kann. Das Schreien ist so schrill, dass es jeder meiner Nachbarn sein könnte, der alte Herr mit dem Spazierstock ebenso wie die Frau aus dem Erdgeschoss. Dann schlägt die Haustür ins Schloss – durch meine Glasvitrine geht ein leises Klirren, das ich lange nicht vernommen habe –, und das Schreien verstummt. Noch ehe ich das Wohnzimmerfenster erreiche, weiß ich, dass etwas Ungeheuerliches geschieht.
  Von oben sehe ich den Professor aus dem zweiten Stock in einer Blutlache liegen. Seine Tochter rennt aus dem Haus, auch sie wird von einem Schuss niedergestreckt. Immer mehr Menschen rennen nach draußen, aus den Häusern gegenüber, aus den Häusern nebenan. Sie alle laufen nur ein paar Schritte, ehe sie zu Boden gehen. Ein oder zwei Gestalten sehe ich in Hinterhöfen verschwinden, wahrscheinlich kommen sie auch dort nicht weit. Sam spielt As Time Goes By, unten auf der Straße robbt die Frau aus dem Erdgeschoss ein Stück vorwärts, ehe ein weiterer Schuss sie trifft. Wenn ich gewusst hätte, dass so etwas jenen passiert, die ihr Haus verlassen, ich hätte längst etwas getan. Ich hätte mich nachts in die Hinterhöfe geschlichen und Gleichgesinnte gesucht, ich hätte Pflastersteine ausgegraben und Baugerüste abmontiert, ich hätte dem Jungen Geld gegeben, ich hätte mein Leben aufs Spiel gesetzt.
  In dieser Nacht klingelt der Junge nicht.

In dieser Nacht ist es still auf der Straße, aber ich schlafe nicht. Ich beobachte, wie eine Kehrmaschine die Blutflecken wegwäscht, und halte die Fenster geschlossen.
  In den nächsten Tagen blättere ich immer wieder in meinem Notizblock. Vielleicht fällt mir an den Worten des Jungen endlich etwas auf, vielleicht finde ich einen Code oder eine geheime Nachricht, wann der Aufstand beginnt, was dieser Aufstand zum Ziel hat, wie man sich ihm anschließen kann. Als der Junge endlich wieder bei mir klingelt, schiebe ich Geld unter der Tür hindurch, einen Schein von hohem Wert. Ich sehe das Staunen in den Augen des Jungen, dann erlischt das Licht.
  Die ganze Nacht stehe ich hinter der Tür und schaue durch den Spion in die Schwärze. Ich weiß nicht, ob der Junge den Schein mitgenommen, ob er überhaupt Geld erwartet hat. Die ganze Nacht stehe ich da und habe Angst. Ich habe Angst, dass der Junge das Geld nicht wollte, und am Morgen entdeckt es jemand und meldet mich den Garden. Dabei weiß ich gar nicht, ob in den anderen Wohnungen noch jemand lebt. Und erst als der Morgen graut, zunächst unmerklich, dann unerbittlich, wird mir bewusst, dass mir etwas anderes viel mehr Angst bereitet: Im Grunde ist es unmöglich, doch vielleicht liegt der Schein noch auf meiner Schwelle, weil es den Jungen nicht gibt.

Aus: Mein weißer Fuchs. poetenladen 2019

 

 
Katharina Bendixen
Prosa
Reportage
Gespräch