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Katharina Bendixen
Der Grashalm
Als mein Bruder fünf Jahre alt war, wurde er von einem Traktor überfahren, und obwohl mein Vater den Traktor lenkte, war nicht nur er schuld am Tod meines Bruders, sondern wir trugen die Schuld zu dritt. Meine Mutter stand in der Küche und passte durch das Fenster auf meinen Bruder auf, der neben dem Haus in der Sonne spielte. Für einen Moment schaute sie jedoch nicht nach draußen, sondern auf den Kartoffelbrei, der im Topf große Blasen warf. Mit kräftigen Bewegungen rührte sie den Kartoffelbrei, statt meinen Bruder im Blick zu behalten. Ich sollte meinen Vater in die Lücke zwischen Ahornbaum und Schuppen einwinken. Mein Bruder kauerte sich an die Schuppenwand, er untersuchte ein paar Grashalme, riss sie in schmale Streifen und hielt sie gegen die Sonne. Ich war mir sicher, dass mein Vater meinen Bruder sehen und an ihm vorbeilenken würde. Ohnehin stellte er den Traktor immer in einem Meter Abstand zur Schuppenwand ab, damit das Regenwasser nachts nicht vom Schuppendach auf den Traktor tropfte. An diesem Tag parkte mein Vater aber besonders nahe zur Schuppenwand ein, weil seit Tagen die Sonne schien und der Traktorsitz so heiß wurde, dass er sich den Hintern verbrannte. Bis nach oben in mein Zimmer hörte ich morgens seine Flüche. Mein Vater beachtete nur mein Winken in die hintere Richtung, den Abstand zur Schuppenwand bestimmte er selbst. Er gab Gas, dann holperte es kurz. Er stellte den Motor ab und sprang aus der Fahrerkabine. Ich blieb neben dem Ahornbaum stehen und sagte nichts. Meine Mutter schaute vom Kartoffelbrei auf. An der Stelle, an der eben noch mein Bruder gekauert hatte, stand nun der Traktor, und zwischen seinen großen Hinterrädern war etwas Kleines, Farbiges zu erkennen. Ich sagte nichts, dann sagte ich: „Papa!“ Auf dem Weg zum Haus drehte mein Vater sich um und sagte: „Nein, zum Traktorfahren bist du immer noch zu klein, aber einwinken kannst du wirklich gut.“ Ich sagte noch einmal: „Papa!“ Mein Vater verschwand im Haus. „Keine Diskussion!“, rief er mir noch zu. Hinter ihm her lief ich in die Küche. Meine Mutter sah durch das Fenster den Traktor an, mein Vater hatte ihr den Arm um die Hüfte gelegt und schaute in dieselbe Richtung, der Kartoffelbrei blubberte, die Hälfte war schon auf der Herdfläche verteilt. „Komm zu uns“, sagte meine Mutter mit monotoner Stimme, und mein Vater nickte stoisch zu ihren Worten. Ich stellte mich vor meine Mutter und lehnte meinen Hinterkopf an ihre weiche Brust, bis sie zu schreien begann.
Die Rettungssanitäter brauchten lange, um meinen Bruder zu befreien. Sie funkten schon die Feuerwehr an, aber bevor der rote Wagen eintraf, brachten sie meinen Bruder doch unter dem Traktor hervor, und sie bestellten ihre Kollegen wieder ab. Dann wollten sie meinen Bruder nicht mitnehmen, weil sie sahen, dass sie nicht mehr helfen konnten. Meine Mutter bat sie, ihn auf die Trage zu heben. Sie richtete seine Gliedmaßen wieder ein, so dass man glauben konnte, er hätte keine Verletzungen, wenn er nicht überall so blutig gewesen wäre. „Aber jetzt“, sagte meine Mutter, „können Sie vielleicht noch etwas tun, jetzt sieht er schon viel besser aus.“ Die Rettungssanitäter schüttelten den Kopf und hoben die Trage in ihren Wagen. Ohne Blaulicht fuhren sie davon, und wir gingen wortlos ins Haus. Auch später redeten wir nicht über ihren Besuch, nur wenn wir uns mittags im Hausflur trafen, sagten wir unsere Traktorsätze. Meine Mutter sagte: „Fast hätte ich meinen Sohn getötet, als ich Kartoffelbrei kochte“, und mein Vater sagte: „Fast hätte ich meinen Sohn getötet, als ich den Traktor einparkte“, und ich sagte: „Fast hätte ich meinen Bruder getötet, als ich meinem Vater beim Einparken half“, und manchmal lächelten wir dann. Wenn einer anfing, mussten die anderen ihre Sätze auch aussprechen, und wenn einer lächelte, mussten die anderen auch lächeln, und dann ging ich nach oben und erledigte meine Hausaufgaben, und meine Mutter ging in die Küche und kochte Marmelade ein, und mein Vater ging nach draußen und fuhr über die Felder.
Bis auf unsere Angewohnheit, nacheinander diese Sätze zu sagen, änderte sich nach dem Besuch der Rettungssanitäter nicht viel, nur das Einparkverhalten meines Vaters wandelte sich: Er ließ den Traktor abends einfach auf dem Feld und setzte sich am Morgen wieder hinein. Zum Geburtstag schenkte meine Mutter ihm ein Sitzkissen mit einem Bezug voller weißer und gelber Blumen, das von der Sonne nicht aufgeheizt wurde und seinen Arbeitstag auf dem Feld angenehmer machte. Manchmal hielt er nun seinen Mittagsschlaf in der Fahrerkabine, er verschränkte die Arme über dem Lenkrad und bettete den Kopf darauf. Den Zündschlüssel versteckte er tief in seiner Hosentasche, damit ich nicht auf dumme Gedanken käme. Doch das passierte nicht, denn noch etwas war anders geworden: Ich bettelte meinen Vater nicht mehr an, dass er mich Traktor fahren ließe, und ich sehnte das Alter, in dem ich endlich Traktor fahren durfte, nicht mehr herbei. Ich begann, es ängstlich zu betrachten, verfluchte jeden Geburtstag und gab mich bei Fremden jünger aus, als ich eigentlich war. Meine Eltern sahen sich dann über meinen Kopf hinweg an, nur mit Lippenbewegungen deuteten sie ihre Traktorsätze an, und ich flüsterte meinen Traktorsatz hinterher, und manchmal dachte ich, sie würden mich verstehen.
Ich musste meinen Vater enttäuschen, als ich in das gefürchtete Alter kam, in dem er mich zum ersten Mal hinter das Lenkrad seines Traktors setzen wollte. „Ich kann das nicht“, sagte ich. Mein Vater sah mich ungläubig an. Er hatte den Traktor vor das Küchenfenster gestellt, unweit des Ahornbaums und des Schuppens. „Ich glaube, ich kann das einfach nicht“, wiederholte ich. Zuerst versuchte mein Vater es im Guten. „Fast hätte ich meinen Sohn getötet, als ich den Traktor einparkte“, sagte er, und ich erwiderte: „Fast hätte ich meinen Bruder getötet, als ich meinem Vater beim Einparken half“, und meine Mutter sagte nichts, sie stampfte in der Küche Kartoffeln und konnte uns nicht hören. Störrisch verharrte ich neben dem Traktor, mein Vater wurde langsam wütend. „Sei doch nicht so sensibel“, fuhr er mich an. Ich schaute von seinem Gesicht auf den Boden und zurück. „Vielleicht möchte ich überhaupt nicht Traktor fahren“, sagte ich, „vielleicht möchte ich etwas ganz anderes lernen.“ – „Keine Ausreden“, schimpfte er, „was willst du denn sonst arbeiten? Und überhaupt: Beim Einwinken warst du auch nicht so zimperlich!“ Ich fuhr zusammen. „Aber …“, sagte ich. „Kein Aber!“, erwiderte mein Vater. „Natürlich Aber!“, rief ich. „Du kannst ja nicht mal richtig einparken! Was soll ich von dir schon lernen?“ Meine Mutter schaute aus dem Fenster, sie war aufmerksam geworden, weil wir immer lauter sprachen. „Fast hätte ich meinen Sohn getötet, als ich Kartoffelbrei kochte“, rief sie aus dem Fenster. „Du!“, schrie mein Vater. „Du kannst nicht einmal auf ein fünfjähriges Kind aufpassen, wie soll da aus dem anderen etwas Vernünftiges werden!“ Meine Mutter sah meinen Vater entsetzt an. „Wieso beginnt ihr nicht mit dem Einparken, das ist doch das Wichtigste, da kann man eigentlich nicht viel falsch machen“, sagte sie und zog die Gardine zu. Mein Vater spuckte auf den Boden.
An diesem Abend verließ er zum ersten Mal seit dem Besuch der Rettungssanitäter das Haus, ohne sich zu verabschieden. Er kam nicht wieder. Meine Mutter ging am nächsten Morgen, sie trug ihren Einkaufsbeutel mit einer großen Dose Kartoffelbrei in der Hand. Ich verfolgte ihren Weg bis an die Biegung der Dorfstraße, dann verlor ich sie aus den Augen, während ich mir überlegte, die großen Reifen des Traktors mit einem Messer zu zerstechen. Es gelang mir nur bei einem. Ich nahm das geblümte Kissen aus der Fahrerkabine, legte es neben die Schuppenwand und setzte mich darauf. Ich riss einen Grashalm aus dem Boden und hielt ihn gegen die Sonne, aber ich konnte nichts Fesselndes daran erkennen.
Aus: Der Whiskyflaschenbaum. Erzählungen. poetenladen 2009
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Katharina Bendixen
Prosa
Reportage
Gespräch
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