Der verschollene Vater
John Irving – Bis ich dich finde
Jack Burns ist ein angesehener, reicher Schauspieler und ein oscargeehrter Drehbuchautor. Trotzdem ist er nicht glücklich. In seinem Leben fehlt eine wichtige Person: Sein Vater William, ein ganzkörpertätowierter Musiker, ließ seine Mutter Alice, eine Tätowiererin sitzen, noch bevor Jack geboren wurde. Auf einer mehrmonatigen Reise durch Europa folgen Jack und Alice dem Vater, suchen die Tätowierstudios auf, in denen er seiner Obsession frönt, finden ihn jedoch nicht. William bleibt verschollen. Schließlich kehren die beiden zurück nach Kanada, und Jack kommt in eine Mädchenschule. Dort entwickelt sich sein gespaltenes Verhältnis zu älteren Frauen, das seinen Beginn in der Freundschaft mit der sechs Jahre älteren Emma nimmt, die den neunjährigen Jack alle Geheimnisse des weiblichen und männlichen Körpers lehrt und regelmäßig seine körperliche Entwicklung begutachtet, und später auf der Universität in einem Verhältnis mit einer übergewichtigen Geschirrspülerin gipfelt, die Jacks Mutter sein könnte. Jack spielt Theater, bekommt erste Filmrollen, wird berühmt. Doch er kann diesen Ruhm nicht genießen, und schließlich macht er sich zu einer erneuten Reise nach Europa auf, die seine Kindheitserinnerungen und das Bild von seiner Mutter ganz plötzlich auf den Kopf stellt und sein bisheriges Leben in einem neuen Licht erscheinen lässt.
Zu John Irvings Romanen lässt sich eigentlich nicht viel Neues sagen: Die Handlung ist gekonnt erdacht und spannend umgesetzt, die Charaktere sind skurril, die Erzählstruktur ist meist herkömmlich chronologisch, die Sprache einfach, an manchen Stellen fast zu banal. Seine Protagonisten mögen Ringsport, bewegen sich in New Hampshire oder im Amsterdamer Rotlichtviertel und sind innerlich zerrissen. Und trotz all dieser Gemeinsamkeiten sind Irvings Bücher in ihrem Einfallsreichtum unterschiedlich und fesseln immer wieder aufs Neue. Das Konzept ist einfach: Der Leser weiß, was er von John Irving zu erwarten hat, und diesen Erwartungen wird Irving durchschnittlich alle zwei Jahre gerecht.
Bis ich dich finde unterscheidet sich allerdings von Irvings bisherigen Romanen in einem: im Umfang. Die fast 1.200 Seiten, auf denen Jacks Geschichte erzählt wird, tun dem Buch nicht immer gut. Vor allem der Mittelteil, in dem Jacks Aufstieg zu einem gefragten Schauspieler geschildert wird und in dem Irving so weit geht, alle Plots von Jacks erfolgreichen oder auch weniger erfolgreichen Filmen zu erzählen, ist streckenweise etwas langatmig und mühsam zu lesen. Die konsequente Beschränkung auf Jacks Leben mit allen Details und Kleinigkeiten, den unzähligen, sich wiederholenden Frauengeschichten und das ständige Reflektieren seiner Elternbeziehung fesselt zwar einerseits, andererseits ist Jacks larmoyanter Charakter in Teilen des Romans nur schwer zu ertragen. Das überraschende Ende des Romans entschädigt jedoch für den anstrengenden Teil der Lektüre: Hier überschlagen sich die Ereignisse, und hier finden sich auch wieder Irvings gewohnt skurrile Handlungswenden und Charakterzeichnungen.
|
John Irving
Bis ich dich finde
(Until I Find You)
Roman
Zürich: Diogenes 2006
|
John Irving, geboren 1942 in Exeter, New Hamsphire, lebt heute im südlichen Vermont. Mit 19 wusste der Sohn eines Professors für russische Geschichte schon, was er wollte: Ringen und Romane schreiben. „Schreiben ist wie Ringen. Man braucht Disziplin und Technik. Man muss auf eine Geschichte zugehen wie auf einen Gegner.“
© 19.02.2006 Katharina Bendixen Print