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Margit Schreiner

Gespräch mit Katharina Bendixen für den poetenladen
»Eine fremde Umgebung schärft die Sinne«
  Gespräch
Margit Schreiner in poet nr. 10. Welche Rolle spielen Orte für das Schrei­ben – seien es gegen­wär­tige, ver­gan­ge­ne oder ste­tig wech­selnde? Foto: Public Domain
Margit Schreiner, geboren 1953 in Linz. Sie studierte Germanistik und Psychologie in Salzburg und ging 1977 für drei Jahre nach Japan. Seit 1983 lebt sie als freie Schrift­stellerin zunächst in Salzburg und Paris, später in Berlin und Italien – heute wieder in Linz. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, u.a. den Ober­öster­reichischen Landes­kulturpreis, den Kunst­würdigungs­preis der Stadt Linz und den Öster­reichi­schen Würdigungs­preis für Literatur. Zuletzt erschienen der Essayband »Schreibt Thomas Bernhard Frauen­literatur?« (2008) und der Roman »Haus, Friedens, Bruch« (2007).


Katharina Bendixen: Liebe Frau Schreiner, wir wollen uns in diesem Interview über Orte oder Räume als Teil des literarischen Texts und auch als Teil des Lebens unterhalten. In einem Essay haben Sie geschrieben, es gebe »einen Kern in mir, unberührt von Zeit und Raum«. Was meinen Sie damit? Spielt der Raum in Ihrem Leben und in Ihren Texten doch keine so große Rolle?

Margit Schreiner: Ich habe damit Borges zitiert, der in etwa sagt: »There is a kernel of myself, that I have saved, somehow … that is untouched by time, by joy, by adversities.« Das habe ich damals in meinen Kalender geschrieben. Ich konnte das Zitat lange auswendig, jetzt weiß ich es nur mehr in Bruchstücken. Für mich ist damit ein Charakterkern gemeint, eine Unberührtheit eben, etwas Unsagbares. Das hat nichts mit den äußeren Räumen zu tun, die in meinem Denken, meiner Erinnerung, in meinem Schreiben eine große Rolle spielen.

K. Bendixen: Auch in Ihrem Lebenslauf spielen verschiedene Orte eine große Rolle. Sie sind in Linz geboren und zur Schule gegangen, danach haben Sie in Tokio, Paris, Rom und Berlin gelebt, jetzt wohnen Sie wieder in Linz. Was glauben Sie, wie lange werden Sie dort bleiben? Sind die vielen Umzüge eher äußeren Umständen geschuldet oder steckt dahinter eine Art Lebenskonzept?

M. Schreiner: Eigentlich müsste ich nicht mehr in Linz bleiben. Ich habe meiner Tochter vor zehn Jahren, als wir nach acht Jahren Berlin und eineinhalb Jahren Italien nach Linz gezogen sind, versprochen, bis zu ihrem Abitur in Linz zu bleiben. Nun ist sie neunzehn Jahre alt. Ich werde aber trotzdem noch eine Weile bleiben. Mein Mann ist in Linz beruflich gebunden. Die Umzüge sind alle Umständen geschuldet, so wie jetzt auch das Bleiben. Aber auch solche Umstände sind Ergebnisse einer bestimmten Lebenseinstellung.

K. Bendixen: Beginnen wir mit dem Ort, der in keinem Ihrer Romane und Erzählungen auftaucht: Obwohl Tokio unter den Städten, in denen Sie gelebt haben, wohl die abenteuerlichste ist, spielen Japan oder Asien in Ihren längeren Texten keine Rolle. Wie kommt das?

M. Schreiner: Zu fremd, zu vertraut. Schreibt man über Japan, ist so viel Exotik im Spiel, so viel Kitsch und Interpretationsgefahr. Denken Sie an Lost in Translation. Das Japanbild in dem Film ist so wahr wie banal. Aber wer weiß: Vielleicht kommt das noch.

K. Bendixen: Gleichzeitig haben Sie in Japan Ihre Dissertation aufgegeben und begonnen literarisch zu schreiben. War der Abstand für diesen radikalen Schnitt nötig?

M. Schreiner: Ich war in Japan mit einem Mann verheiratet, der so viele Talente hatte, dass ich dachte: Hoffentlich verzettelt er sich nicht. Ich wollte mich auf eine Sache konzentrieren. Da ich zum wissenschaftlichen Arbeiten zu ungeduldig, zu faul und zu schlampig war, fiel meine Wahl auf die Literatur. Der Entschluss, nach acht Jahren Studium damit aufzuhören, war in Japan schon einfacher, als er es in Österreich gewesen wäre.

K. Bendixen: Ist es auch einfacher, in der Fremde zu schreiben?

M. Schreiner: Zunächst auf alle Fälle. Ich habe ja anfangs in Japan sehr österreichisch und autobiographisch gefärbte Texte geschrieben. Zu Hause hätte ich das Gefühl gehabt, jemand schaute mir über die Schulter. In Japan dagegen hätte niemand meine Texte auch nur entziffern können.

K. Bendixen: Gibt die Fremde mehr Schreibimpulse als eine vertraute Umgebung?

M. Schreiner: Mir schon. Das liegt daran, dass man in fremder Umgebung immer vergleicht. Das schärft die Sinne. Angeblich hätte sich ohne Differenz unser Hirn zurückentwickelt zum Gehirn eines Affen.

K. Bendixen: Welche Differenzen sind am inspirierendsten?

M. Schreiner: Um Japan als Beispiel zu nehmen: Da war mir als Österreicherin vieles vertraut: die Bürokratie, das Nicht-Aussprechen von Konflikten, das ständige Freundlichtun. Und trotzdem war alles vollkommen anders, formaler, ritueller, der Einzelne bis zur Selbstaufgabe sozial. Da gibt es Schüler, die bringen sich um, weil sie begabter sind als ihre Schulkollegen, oder alte Menschen, die im Winter in die verschneiten Berge gehen, um dort zu sterben und ihren Angehörigen nicht weiter zur Last zu fallen. Das regt an, das Eigene, die Herkunft, die Gesellschaft, sich selbst mit einem fremden Blick zu sehen, während das Fremde, also in dem Fall Japan, vertraut wird, weil man sich dort ja bewegen, einkaufen, leben muss.

K. Bendixen: In Die Unterdrückung der Frau, die Virilität der Männer, der Katholizismus und der Dreck kommen die unterschiedlichsten Orte vor. Sie erzählen in diesem Buch von einer Kindheit in Linz, einem Stipendienaufenthalt in Rom, von einem Handwerkerbesuch in Paris und dem Leben in einem italienischen Dorf. Entstehen solche Geschichten immer an den Orten, an denen sie spielen, oder ist die Distanz zum Ort eine Voraussetzung, um über diesen Ort zu schreiben?

M. Schreiner: Meistens entstanden sie dort, wo ich gerade nicht war. In letzter Zeit mache ich aber die Beobachtung, dass ich auch an dem Ort, an dem ich bin, über diesen Ort schreiben kann. Ich weiß nicht, ob das Erfahrung ist oder ob es mir inzwischen gleichgültig ist, ob mir jemand über die Schulter schaut.

K. Bendixen: Ihre späteren Bücher, das Buch der Enttäuschungen etwa oder Heißt lieben, sind oft gar nicht so fest verankert in einem Raum. Haben Räume für Sie früher eine größere Rolle gespielt?

M. Schreiner: Nein, ganz im Gegenteil. Jetzt gerade, wo Sie mich fragen, fällt mir auf, dass meine Räume in geradezu unheimlicher Weise näher rücken. In Haus, Friedens, Bruch beschreibe ich zum Beispiel minuziös meine eigene Wohnung, in der ich gerade sitze und schreibe. Das könnte natürlich das Alter sein. Im Alter, das habe ich irgendwo geschrieben, wird die Welt immer enger, bis sie im Bett endet, aus dem man nicht mehr aufstehen wird. Vielleicht sollte ich demnächst verreisen!

K. Bendixen: Was kann der Ort, an dem eine Geschichte spielt, dem Leser über die Figur, die Handlung, die Umstände sagen? Möchten Sie mit der Ortswahl bereits etwas »vermitteln«?
M. Schreiner: Nein, umgekehrt: Die Ortswahl vermittelt die Geschichte. Wenn ich an Paris denke, habe ich sofort einen anderen Klang im Ohr, als wenn ich beispielsweise an Rom denke – andere Laute, Sprachgemische, Töne, Flüche, aber auch Farben, Gesten und eben Geschichten.

K. Bendixen: Ist der Ort im Text eine Größe, der Sie vor dem Schreiben viel Aufmerksamkeit widmen, oder ist er – passend zur Geschichte – einfach da?
M. Schreiner: Er ist, so wie die Geschichte selbst, meistens einfach da. Manchmal ist zuerst ein Gedanke da, manchmal ein Ton. Einmal wollte ich unbedingt den Satzteil »Am Abend, als die Sonne, großartig wie immer um diese Jahreszeit, den halben Himmel mit sich reißend, in irgendeinem feuerrotem Abgrund verschwand …« schreiben. Das war gar nicht so leicht. Ich musste dafür die Geschichte eines Bestatters erfinden, der mit dem Leichenwagen und einer Leiche in einer engen Kurve stecken bleibt und weder nach vorn noch zurück kann. So eine Geschichte muss naturgemäß in Italien spielen.

K. Bendixen: Würden Sie einen Roman auch an einem Ort spielen lassen, an dem Sie noch nie waren?
M. Schreiner: Ich glaube nicht, dass ich das täte. Es ist ja unmöglich, den Geruch, den Klang, die Farbe eines Ortes zu recherchieren. Andererseits: Jetzt, wo Sie das gefragt haben, würde es mich schon reizen …

K. Bendixen: Eigentlich sind die Konflikte, von denen Sie erzählen, ja universell. Es könnte sie überall geben. Sind die Orte am Ende vielleicht gar nicht so wichtig?
M. Schreiner: Jeder Konflikt ist konkret und es kann ihn in einer ­be­stimmten Form nur einmal geben. Das Kunststück ist für mich, immer beides zu erzählen: ganz konkrete und gleichzeitig universelle Geschichten.

K. Bendixen: Die meisten Ihrer Bücher spielen doch in Österreich. Ist – trotz Ihrer vielen Wohnorte – Österreich die festeste Bezugsgröße in Ihrem Leben geblieben? Ist Österreich oder Linz so etwas wie Heimat?

M. Schreiner: Ich bin hier geboren und ich glaube, die ersten Erfahrungen eines Menschen sind die wichtigsten in seinem Leben: erste Bäume, erste Gerüche, erste Liebe, erste Enttäuschungen … Sie sind – schon wieder ein Selbstzitat – die Festplatte, alles weitere sind Kassetten. Heimatgefühle habe ich allerdings keine.

K. Bendixen: Ist Heimat auch etwas, das Angst machen kann?

M. Schreiner: Allerdings! Wenn ich daran denke, dass H. C. Strache, ein österreichischer rechter Politiker, in einer Brandrede vor seinem Publikum geschrieen hat: »Keine Zahnprothesen für Ausländer!«, da kann’s einem schon gruseln vor dieser Bananenrepublik.

K. Bendixen: Auf diese Weise ist ja leider fast jeder Ort gruselig. Ich frage mich eher, ob die Herkunft, eben diese Festplatte, wie Sie sie nennen, einem manchmal Angst machen kann …

M. Schreiner: … ja, man hat immer auch Angst vor sich selbst.

K. Bendixen: Um nach der anderen Konstante eines literarischen Textes zu fragen – wie wichtig ist eigentlich die Zeit? Ihre Romane spielen immer in der Gegenwart, würde es Sie beispielsweise interessieren, über die Vergangenheit oder die Zukunft zu schreiben?

M. Schreiner: Das habe ich ja alles getan. Ich habe viel über meine Kindheit geschrieben, im Buch der Enttäuschungen habe ich aus der Ich-­Perspektive einer bereits verstorbenen Person geschrieben. Da habe ich mich sozusagen selbst in die Zukunft hinein verabschiedet. Wenn Sie allerdings Historisches meinen: Nein, ich bin ziemlich sicher, dass ich nie einen historischen Roman schreiben werde. Und auch keine Science Fiction.

K. Bendixen: Überlegen Sie manchmal, wie Sie selbst wären und wie Ihr Werk, wenn es all die Reisen und Städte in Ihrem Leben nicht gegeben hätte?

M. Schreiner: Ich wäre eine andere. Ich bin aber gerne ich selbst.

K. Bendixen: Welchen Anteil hat die Kindheit im Linz der 50er und 60er Jahre an der Autorin Margit Schreiner?

M. Schreiner: Einen sehr großen Anteil. Ich bin im spießigen Kleinbürgertum der 50er Jahre geboren, 1968 war ich gerade fünfzehn. Meine biologische und die politische Pubertät sind sozusagen zusammengefallen. So etwas prägt.

K. Bendixen: »Je unerreichbarer ein Land ist, desto größer ist die Sehnsucht«, heißt es in einem Ihrer Essays. Nach welchem Land, nach welcher Landschaft ist Ihre Sehnsucht am größten?

M. Schreiner: Meine größte Sehnsucht ist im Moment eine einsame Insel im Meer, auf der ich in den letzten Jahren bereits ein paarmal war. Man wird von einem Fischerboot dort ausgesetzt, muss alles an Essen und Trinken mitnehmen, weil es auf der Insel nichts gibt. Es gibt dort auch nur ein bisschen Strom, der wird von einer Autobatterie erzeugt, die von einem Windrad und einer Solarzelle angetrieben wird. Ein Laptop ist nur bei Sturm funktionsfähig. Aber es gibt zwei kleine Häuser mit Brunnen in der Küche, einen Kühlschrank, der von Gasflaschen betrieben wird, und ein paar Meter vor dem Haus das Meer. Und das ist kobaltblau und smaragdgrün und manchmal türkis und bei Sturm grau und bissig.

K. Bendixen: Vielen Dank für das Gespräch.
 

Dieses Gespräch
und weitere Gespräche
zum Thema in poet nr. 10.



poet nr. 10
Literaturmagazin
poetenladen, Leipzig Frühjahr 2011
272 Seiten, 9.80 Euro

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Katharina Bendixen    04.04.2011   

 

 
Katharina Bendixen
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