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Wilhelm Genazino

Mittelmäßiges Heimweh

Über-beobachtende biedere Angestellte

Wilhelm Genazino | Mittelmäßiges Heimweh
Wilhelm Genazino
Mittelmäßiges Heimweh
Roman
Carl Hanser 2007
Dass Wilhelm Genazino gute Bücher schreibt, wissen viele. Zum Beispiel die Juroren des Georg-Büchner-Preises 2004. Warum er aber mit seinem neuen Roman auf die Nominierungsliste zum Preis der Leipziger Buchmesse gehoben wurde, bleibt ein wenig unklar. Sicher, es geht um die besten Romane des aktuellen Bücherjahres, und Genazino hat ohne Zweifel erneut einen der besten Romane der Saison geschrieben. Aber wo eine solch subjektive und winzige Auswahl aus einer solchen Unmenge an Veröffentlichungen getroffen wird, die sicherlich mehr als fünf herausragende Bücher enthält, da sollte doch Platz für wenigstens ein Debüt, einen Geheimtipp oder einen Nischenverlag sein. Es geht ja schließlich nicht nur um den Preis und die dazugehörige Dotierung, sondern auch um dessen lese- und verkaufsfördernde Wirkung, sollte man meinen. Ein Georg-Büchner-Preisträger kann auf solch eine Wirkung wohlgemut verzichten, den Preis beinahe belächeln.

Recht haben sie aber, die Juroren, denn Mittelmäßiges Heimweh ist ein Roman in bester Genazino-Manier: voller skurriler Beobachtungen, fetischistischer Wahrnehmungen und mit einem Angestellten als Helden, der immer kurz davor ist, an der Realität zu scheitern, wäre da nicht die Realität selbst, die mit ihren Kleinigkeiten einen ständigen Trost bietet, wenn man sie nur aus der richtigen Perspektive und in der richtigen Geschwindigkeit betrachtet.

Diesmal heißt Genazinos Held Dieter Rotmund, ist ein biederer Controller einer Arzneimittelfirma und verliert bereits im ersten Kapitel ein Ohr, in der Mitte des Buches die Frau und gegen Ende den kleinen Zeh und die Geliebte. Zwischendurch wird Rotmund ungewollt und überraschend zum Finanzdirektor befördert, wodurch ihm sein Leben zusätzlich unkontrollierbar erscheint. Der Verlust der Körperteile mag ein wenig vordergründig wirken; im Gegensatz zu Rotmunds Gefühlen, die in der schwer begreifbaren Mittelmäßigkeit schwanken, sind das verschwundene Ohr und der verschwundene Zeh jedoch erbarmungslose Zustände, die für Rotmund wenigstens eindeutig und fassbar sind.

Genazinos Roman lebt weniger von Spannung und Plot als vielmehr von der Sprache und den zahlreichen Über-Beobachtungen, denen man ständig auf der Lauer liegt. Und da sind sie: „Außerdem empfinde ich die kleinen gelben Lampen, die auch bei Tageslicht eingeschaltet sind, besänftigend und sehnsuchtstillend“, stellt Dieter Rotmund zum Beispiel im Zug fest. „Wie so oft ist mein Gefühlsleben grenzwertig anteilnehmend und grenzwertig fliehend“, denkt er, während er Menschen in einem Schwimmbad beobachtet, und im Büro bemerkt er: „Es ist ein bißchen verrückt, daß ich sogar unter meinen Büroklammern geliebte und weniger geliebte unterscheide.“

Selbst ein Stück Butter oder ein missglücktes einsames Picknick löst in Rotmund eine Verzweiflung aus, die seitenweise anhält und nur durch genaue Beobachtungen oder akribisch beschriebene ungewöhnliche Handlungen wieder ausgeglichen werden kann: „Aus Verzweiflung über den Verlauf meines Lebens beiße ich in den Saum meines Unterhemds. Mit meinen im Unterhemd verbissenen Zähnen gelingt mir langsam die Zerkleinerung des Schmerzes.“ Für solche Sätze und für Szenen, in denen biedere Angestellte statt Vollkornbrot „Volkszornbrot“ lesen oder sich um schwitzende Paprikawürste Gedanken machen, wird Genazino geliebt und gelobt (oder auch belächelt, zum Beispiel von Ulrich Greiner). Dass Genazino aber dafür den Preis der Leipziger Buchmesse erhält, wäre trotzdem ein schlechtes Zeichen: ein Zeichen nämlich dafür, dass nicht der Preis Autoren zu mehr Öffentlichkeit verhilft, sondern Autoren dem Preis.
Wilhelm Genazino, geboren 1943 in Mannheim, arbeitete zunächst als freier Journalist, später als Redakteur bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. Seit 1971 ist er freier Schriftsteller. 2004 erhielt er den Georg-Büchner-Preis. Zuletzt erschienen: Die Liebesblödigkeit (Roman, 2005) und Die Belebung der toten Winkel (Frankfurter Poetikvorlesungen, 2006). Wilhelm Genazino lebt in Frankfurt.

Genazino bei Hanser (Hör- und Leseproben)

Katharina Bendixen     11.02.2007    

Katharina Bendixen
Prosa
Reportage
Gespräch