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Jan Kuhlbrodt
Schneckenparadies
Roman
Plöttner Verlag 2008
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„Es gibt so viele Welten wie Individuen“, zitiert Jan Kuhlbrodt auf der ersten Seite seines Buches
Schneckenparadies den Philosophen Jakob Johann von Uexküll, und mit Blick auf das Buch möchte man sofort präzisieren: Es gibt so viele Vergangenheiten wie Erinnernde. Kuhlbrodt erzählt eine dieser Vergangenheiten, nämlich seine, oder die eines Autors, der schreibend versucht, der Gesetzmäßigkeit seiner Erinnerung auf den Grund zu kommen. Die gibt es aber nicht, ebenso wie auch Geschichte keinen begründeten, gesetzmäßigen Verlauf nimmt, sondern immer eine „Kette einzigartiger Geschehnisse“ darstellt.
In den fünf Teilen von
Schneckenparadies taucht Kuhlbrodt in eine Vergangenheit ein, deren Eckdaten mit seiner eigenen Biografie weitgehend übereinstimmen. Die Teile sind mit Titeln wie
Versuch über Thilo,
Versuch über Bernd oder
Sterbende Staaten oder Ein dritter Versuch überschrieben, und das nicht nur, weil Kuhlbrodt neben seiner Tätigkeit als Autor und Geschäftsführer der Literaturzeitschrift
EDIT als Essayist arbeitet und einst Philosophie studierte. Vielmehr ist die Bezeichnung
Versuch angemessen, weil das Buch einen Versuch darstellt, Vergangenheit als ein Konstrukt der Erinnerung zu entlarven, als nur eine Version von vielen.
Kuhlbrodt erzählt vom Karl-
Marx-Stadt der 80er Jahre und von der EOS Dr. Theodor Neubauer, deren Schulhof ein Transparent mit der Aufschrift „Kampf dem Mittelmaß“ schmückte; von der Jagd nach guten Büchern in den Antiquariaten von Leipzig, Karl-Marx-Stadt und Prag; vom Philosophiestudium und ersten Kontakten zu Studenten aus dem Westen, die den Leipziger Kollegen einen Kopierer und eine alte Druckmaschine sponserten; von der Zeit bei der Frankfurter AStA; vor allem aber von der Wende in Leipzig. Hier bleibt die Erzählung hängen, als könnte auch der Ich-Erzähler sich von dieser Zeit nicht mehr lösen. Immer wieder kehrt Kuhlbrodt zu den Erinnerungen an den Leipziger Herbst 1989 zurück, denn sie lassen ihn nicht los: Bedeutet es ein biografisches Versagen, in der DDR nur für wenige Stunden im Gefängnis gesessen zu haben, „und nur auf Grund eines Irrtums“? Reicht es aus, den ostdeutschen Dialekt zu eliminieren, um Fragen nach „Schuld und Verstrickung“ aus dem Weg zu gehen? Das Risiko autobiografischen Schreibens, so erklärt der Ich-Erzähler von Schneckenparadies, liege darin, „dass man vielleicht vor dem, der man einmal gewesen ist, nicht bestehen könnte“. Offensichtlich aber auch darin, dass das vergangene Ich vom Ich der Gegenwart vielleicht nicht akzeptiert werden kann.
„Man interessierte sich weniger fürs Analytische als fürs Anekdotische“, schreibt Kuhlbrodt über die Jahre bei der Frankfurter AStA. Schneckenparadies hingegen interessiert sich für beides: dafür, Anekdoten zu erzählen, ebenso wie dafür, die Umstände der Anekdoten und die Erinnerung an die Anekdoten zu analysieren. Dabei überwiegt die Reflexion und Analyse deutlich, und das gereicht dem Buch zum Vorteil und zum Nachteil gleichermaßen: Es ist ein großer Gedankenraum ohne Anfang und Ende, ein gelehrter Langtext, der allerdings gelegentlich in die Beliebigkeit des freien Assoziierens abdriftet. Doch er bekommt seinen Erzählfaden immer wieder zu greifen, denn eine Symbolik wie die Schnecken aus dem Titel, die Beständigkeit der Freundschaft oder die Mauersegler, die der Ich-Erzähler – Ironie der Geschichte – nur im Osten, nicht aber im Wesen zu sehen bekommt, geben ihm eine leichte, unaufdringliche Struktur.
Jan Kuhlbrodt im Poetenladen