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Jenny Erpenbeck

Heimsuchung

Ein Rest von Schuld, ein Rest von Geheimnis

Jenny Erpenbeck | Heimsuchung
Jenny Erpenbeck
Heimsuchung
Roman
Eichborn Berlin 2008
„Das Haus ist jetzt so leer, daß es nicht viel Gewicht haben würde, wenn sie ihm befehlen könnte, sich in die Lüfte zu erheben und fortzuschweben“, heißt es auf einer der letzten Seiten von Jenny Erpenbecks Roman Heimsuchung. Ein Haus als Protagonist eines Romans: Es steht am Märkischen Meer, in Mecklenburg, irgendwo dort, wo Max Schmeling geboren wurde. Errichtet wurde es in den 20er Jahren, bewohnt bis zur Jahrtausendwende. Und obwohl es am Ende leer an Dingen ist, ist es voller Geschichten: Geschichten, die Erpenbeck auf ihre gewohnt vorsichtige, geheimnisvolle Art und Weise erzählt.

In elf Kapiteln stellt Erpenbeck die Bewohner des Hauses vor, die durch ein Jahrhundert hindurch untrennbar mit der deutschen Geschichte verbunden sind. Es sind verknappte Lebensläufe, die Erpenbeck literarisch miteinander verwebt, und obwohl Erpenbeck fast ohne Dialoge schreibt und der klassische roten Fade bei dieser episodischen Form nicht existiert, entsteht dennoch eine starke innere Spannung. Wenn sich manch junger Autor bei einem solchen Roman den Vorwurf gefallen lassen müsste, er hätte nur nicht den Atem für die lange Strecke, ist bei Erpenbeck klar: Es geht um das große Ganze. Sie erzählt eine Geschichte, die sie nur so erzählen kann. Und so wie in Erpenbecks Sätzen immer ein Rest von Geheimnis liegt, tragen viele ihrer Helden einen Rest von Schuld mit sich.

Der Architekt zum Beispiel, der das Haus einst errichten ließ und in den 30er Jahren das benachbarte Haus und Grundstück dazukauft, weil die jüdischen Besitzer auswandern müssen. Oder die Schriftstellerin, die das Haus zu DDR-Zeiten übernimmt, die während des Dritten Reichs in der Sowjetunion gelebt hat und dort eine Bekannte auf der Suche nach einem Versteck abgewiesen hat. Oder der Unterpächter, der das Haus nutzt, während nach der Wende die Besitzverhältnisse geklärt werden müssen, ein begeisterter Segler, der einen Fluchtversuch aus der DDR unternahm, ohne an seine Verlobte zu denken. Erpenbeck macht die Ungeheuerlichkeiten der deutschen Geschichten durch das Schreiben greifbar. Nur manchmal, in den Kapiteln, in denen von den Opfern der Geschichte die Rede ist, zerstört die Drastik des Benennens manchmal die geheimnisvolle Atmosphäre des Romans.

Am Ende des Buches wohnt die Enkelin der Schriftstellerin im Wandschrank des leeren Hauses wie einst die Frau des Architekten, die sich dort tagelang vor den Russen verstecken musste. Aus dem Schrank heraus belauscht die Enkelin, wie eine Maklerin zahlreichen Kaufinteressenten das Haus anpreist. Bald wird von dem Haus nichts mehr übrig sein als ein paar Kubikmeter Schutt. „Wer baut, klebt nun einmal sein Leben an die Erde“, heißt es im Kapitel über den Architekten. Das klingt nicht besonders glücklich. Und tatsächlich: Glück hat es in diesem Haus nur selten gegeben.
Jenny Erpenbeck wurde 1967 in Ostberlin geboren, dort lebt sie heute als freie Schriftstellerin und Regisseurin. Ihr Prosadebüt Geschichte vom alten Kind war ein sensationeller Erfolg. 2001 folgte die Geschichtensammlung Tand, im Frühjahr 2005 der Roman Wörterbuch. Ihre Bücher sind in vierzehn Sprachen übersetzt.

Katharina Bendixen     07.02.2008

Katharina Bendixen
Prosa
Reportage
Gespräch