Der nicht alltägliche Alltag
Clemens Meyer – Als wir träumten
Es gibt Debütromane, in denen vor allem geraucht, Kaffee getrunken und geredet wird. Es gibt solche, die einen handfesten Konflikt zum Thema haben und denen man anmerkt, wie dieser über Hunderte von Seiten geplant und entwickelt wird, um ihn schließlich gekonnt und kunstvoll aufzulösen. Und es gibt Clemens Meyers Debüt Als wir träumten. Clemens Meyer erfindet scheinbar aus dem Stegreif fünf Personen, gibt ihnen eine Geschichte und scheint dabei immer wieder aus dem Fenster zu schauen – um den Kontakt zur Realität nicht zu verlieren. Nichts an seinem Roman wirkt schwerfällig, zu lang durchdacht oder künstlich aufgeblasen, und dabei ist der Roman dramaturgisch vollendet und in seiner Beschränkung auf fünf zunächst ganz alltägliche Jugendliche weder überladen noch unterbesetzt.
Clemens Meyer entwirft im Leipziger Osten für Daniel und seine vier Kumpels eine Welt, in der in der Schule Pioniermanöver als Übung für den nächsten Krieg veranstaltet werden und ein verbranntes Pionierhalstuch eine Einladung zum Schuldirektor zur Folge hat. Voller Erstaunen beobachten sie, wie plötzlich die Wende in einem vergessenen Stadtviertel Einzug hält. Daniel muss gemeinsam mit seinen Freunden Tiefkühlpizzen im Supermarkt klauen, um die neue Mikrowelle der Eltern auszuprobieren, und es tauchen Autos auf, die sie nachts unbedingt einmal ausprobieren wollen. Meyers Protagonisten sind in einem Alltag zu Hause, in dem ein erbitterter Bandenstreit um die Betreuung einer alten Frau ausbricht, der man wunderbar unauffällig Geld aus der Haushaltskasse stehlen kann, und in dem ein Hobbytätowierer einen erneuten Aufenthalt im Gefängnis herbeisehnt, um noch besser tätowieren zu lernen und damit seinen Lebensunterhalt verdienen zu können.
Meyers Protagonisten erleben eine Kindheit und Jugend, die den Eltern keinen Platz einräumt, die von der Suche nach einem Abenteuer, dem nächsten Kick, bald auch dem nächsten Schuss Heroin dominiert ist und in der jeder Tag in einer Mutprobe zu enden scheint: in einem Saufgelage, einem Einbruch, einer illegalen Disko. Die Schilderung dieser Erlebnisse erfolgt nicht in chronologischer Reihenfolge: Jedes Kapitel ist einer bestimmten Episode aus dem Leben der fünf Jugendlichen gewidmet, und von Anfang an wird klar, dass es in deren Leben kein gutes Ende geben wird. Clemens Meyer beschreibt die Erfahrungen seiner Protagonisten, ohne Mitleid erheischen zu wollen, ohne nach einer Schuld für das Vorgefallene zu suchen oder die Entwicklung von spielenden Kindern zu Kleinkriminellen erklären zu wollen. In dieser distanzierten Beschreibung liegt die Stärke des Romans. Als wir träumten handelt von einem Alltag, der für Meyers Protagonisten selbstverständlich ist, mit dem Weltbild des behüteten Lesers jedoch in einen schwer herstellbaren Einklang gebracht werden muss. Und im Vergleich zu Daniel und seinen Freunden ist wohl jeder Leser behütet.
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Clemens Meyer
Als wir träumten
Roman
Frankfurt a.M.: S. Fischer 2006
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Clemens Meyer, geb. 1977 in Halle/Saale, lebt in Leipzig. Nach dem Abitur arbeitete er als Bauhelfer, Möbelträger und Wachmann. Von 1998 bis 2003 studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2002 erhielt er ein Literatur-Stipendium des Sächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst, 2001 gewann er den MDR-Literaturwettbewerb.
© 26.02.2006 Katharina Bendixen Print