Larissa Boehning
Lichte Stoffe
Eine Lüge, eine Geschichte, ein Trost
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Larissa Boehning
Lichte Stoffe
Roman
Eichborn 2007
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Lichter Stoff ist vieles in diesem Roman. „Heimat war ein Stoff, gedehnt, dünngewaschen und ausgefranst, längst ganz licht“, heißt es am Ende, und mittendrin: „Aber die Liebe? Lichter Stoff.“ Protagonistin Nele sucht den lichten Stoff auf eine andere Weise: Sie hat ihre Abschlussarbeit über Camouflage und Mimikry geschrieben und sich darin auf die Suche nach einem Stoff begeben, der unsichtbar ist, der hinter seiner Umgebung verschwindet. Und mit lichten, da erlogenen Stoffen, hat auch Neles Freund Eric zu tun: Er handelt mit Turnschuhen, die angeblich aus geschichtsträchtigem Material gefertigt sind, „auf Stoff gedruckte FBI-Protokolle der Watergate- Affäre“ oder „Stofffetzen, die von Deutschen 1945 als Zeichen ihrer Kapitulation aus dem Fenster gehängt worden waren“, Legenden der PR-Abteilung eines Turnschuh-Unternehmens. Es geht um vieles in Larissa Boehnings erstem Roman Lichte Stoffe, vieles scheint symbolträchtig, und genau wie die Heimat mutet der Roman daher ein wenig „ausgefranst“ an.
Eine Geschichte über drei Generationen erzählt Boehning in Kapiteln, die auf komplexe Weise miteinander verflochten sind und gleichermaßen poetische wie verwirrende Titel tragen, „Das Gähnen der Anarchie“, „Horizontaler Schwindel in der Wüste“ oder „Zwei Enden einer Liebe“. Neles Großmutter bekam einst von einem amerikanischen Soldat ein Edgar-Degas-Bild und ein Kind, Evi. Wenig später verließ der Soldat sie und das Kind, das Bild nahm er mit. Evi, mittlerweile erwachsen und verheiratet mit Bernhard, möchte wissen, ob sich das Bild noch im Besitz des amerikanischen Soldaten befindet. Wenn ja, so ihre feste Überzeugung, ist ihr verschwundener Vater ihrer Mutter zeitlebens verbunden gewesen. Statt aber nach Amerika zu fliegen und sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit zu begeben, spielt sie die gelangweilte, zurückgezogene Hausfrau, die Bernhard auf die Nerven fällt. Nele dagegen lebt mit Turnschuhverkäufer Eric in Amerika und begibt sich selbst auf die Suche nach ihrem Großvater und dem Bild, um schließlich mit einer Geschichte nach Deutschland zu ihren Eltern zurückzukehren.
„Ihm war, als sei der Kellerboden nur eine leicht überfrorene Eisdecke. Würde er mit dem Fuß aufstampfen, das Eis hielte nicht. So käme all das an die Oberfläche, was er seit Wochen zu verbergen suchte“, heißt es an einer Stelle des Romans. Genauso dünn wie die Eisdecke ist die Distanz zwischen Boehning und ihren Figuren. Boehning gelingt es auf das Präziseste, sich ihnen so weit zu nähern, dass fast alles sichtbar wird, jedoch eine letzte, dünnste Schicht verbleibt, in der keine Risse entstehen. Mit einer tastenden, vorsichtigen Sprache respektiert Boehning ihre Figuren und erzeugt so eine Empathie, die noch stärker wäre, wenn nicht die Probleme der Figuren aufgrund ihrer Bekanntheit bitter aufstoßen würden: Bernhard, bis vor kurzem Abteilungsleiter für Sicherheit in einer Firma für Backprodukte, verschweigt seiner Frau die Kündigung und geht jeden Tag im Park spazieren; Evi kämpft mit dem Gerichtsvollzieher, der den Kleinkredit eintreiben möchte, den sie aufgrund ihrer Kaufsucht aufgenommen hat; und Nele verweigert sich den obskuren Verkaufsmethoden der Turnschuhfirma und Erics Versuchen, ihre Beziehung zu retten.
Die Tradition des Verschweigens in Neles Familie, die zu einer Desorientiertheit aller Familienmitglieder geführt hat, entwickelt sich im Laufe des Romans zum eigentlichen Sujet und wird wesentlich interessanter als der Auslöser der Handlung, die Suche nach Großvater und Bild: Ebenso wie Heimat und Liebe ist auch Sprache ein „lichter Stoff“: In ihrer Durchlässigkeit, ihrer Gemachtheit kann sie Lügen in Wahrheiten verwandeln, Tatsachen zum Leben erwecken, Fakten verschwinden lassen. „Wissen Sie, was für mich Erwachsenwerden bedeutete …? Zu begreifen, daß es keine Wahrheit gibt“, erklärt Neles Flugzeugnachbar im Flug nach Deutschland, und: „Wenn wir etwas glauben, wird es unsere eigene Geschichte.“ Nele nimmt sich bei ihrer Ankunft in Deutschland vor, Evi von ihrem Besuch beim Großvater „eine Lüge zu erzählen, eine Geschichte, einen Trost“, eine Wahrheit also, die keine ist. Die aber tröstet und so einen Kreis schließt.
Larissa Boehning wurde 1971 in Wiesbaden geboren, aufgewachsen ist sie in einer Hamburger Vorstadt. Studium der Kulturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte in Hamburg und Berlin. Für eine Geschichte aus Schwalbensommer erhielt sie 2002 den Literaturpreis Prenzlauer Berg, der gleichnamige Erzählband erschien 2003 bei Eichborn Berlin. Lichte Stoffe war auf der Longlist zum Deutschen Buchpeis vertreten. Larissa Boehning lebt in Berlin und unterrichtet Literarisches Schreiben an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.
Larissa Boehning | Eichborn Berlin
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Katharina Bendixen 27.09.2007
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Katharina Bendixen
Prosa
Reportage
Gespräch
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