Moritz von Uslar
Waldstein oder Der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005
Ambitionierter Fehlschlag
Walter Gieseking war ein berühmter deutscher Pianist, der vor allem durch seine Mozart- und Debussy-Gesamteinspielungen bekannt wurde und der die seltene Fähigkeit besaß, sich allein durch das Notenbild ein Stück einzuprägen und wenig später aus dem Kopf zu spielen. Walter Gieseking heißt auch der Protagonist in Moritz von Uslars Romandebüt Waldstein oder Der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005. Der Zusammenhang zwischen dem realen und dem fiktiven Walter Gieseking bleibt aber bis zuletzt ein Rätsel. Der fiktive Gieseking hört sich immerhin gern klassische Musik an und bekommt von einem ehemaligen Lehrer regelmäßig die Klavier-Kaiser-Edition zugeschickt, die die Süddeutsche Zeitung vor ungefähr einem Jahr herausgab. Mehr auffällige Gemeinsamkeiten bestehen zwischen den beiden Personen nicht, es sei denn, man würde sie forcieren: Beispielsweise könnte man die Fähigkeit des realen Giesekings, sich Noten sofort einzuprägen, mit der Angewohnheit des fiktiven Gieseking, alle Einzelheiten seiner Umgebung gedanklich zu notieren und zu kommentieren, verbinden. Aber die beiden Giesekings und deren offensichtlich nicht vorhandene Gemeinsamkeiten sind nicht das einzige Rätsel, das der Roman aufgibt.
Dabei geht es ganz vielversprechend los: Gieseking, Journalist Mitte dreißig, verbringt mit seiner Freundin Ellen von Galgern einige Tage in ihrer edlen Wochenendvilla in Waldstein. Unweit der Villa wohnt die Familie von Galgern, eine alte wohlhabende, aber gesellschaftlich defizitäre Adelsfamilie, weil die Mutter kurz nach der Geburt des zweiten Kindes nach Amerika verschwunden ist und der Sohn, Ellens Bruder, das in München verschollene schwarze Schaf der Familie darstellt. Von Uslar beschreibt im ersten Drittel des Romans die alltägliche Zweisamkeit zwischen Ellen und Gieseking realistisch und mit einem liebenswerten Hang zur Ironie. „Er kehrte nun in Gedanken all das zusammen, was Paare um die dreißig über das Kinderkriegen und Besser-doch-keine-Kinder-kriegen besprachen, das, was er mit Ellen unzählige Male, mit und ohne Kerzenlicht, im Bett, in Parks, Aufzügen, Flugzeugen, auf Taxifahrten, Gehsteigen, mit und ohne Einkaufstüten in der Hand, besprochen hatte: Dass man Kinderkriegen eigentlich nicht besprechen musste.“ Gekonnt zieht von Uslar alle Register des spießigen, gelangweilten Beziehungsalltags, von einem Streit um das letzte Fischstäbchen bis hin zu Giesekings Fantasien von anderen, nicht unbedingt schöneren, aber dafür abwechslungsreicheren Frauen als Ellen. Das ist witzig, das macht wirklich Spaß.
Plötzlich aber trennt sich Ellen von Gieseking. Daraufhin geht er zurück nach Berlin, in seinen Journalistenalltag und zu seinen Freunden José, Gustav und Jonathan. Sie arbeiten, trinken Milchkaffee, Bier und Wodka, denken an Frauen, hören Musik oder schreiben sich SMS. An dieser Stelle verliert der Roman seinen roten Faden. Es geht weiter in einem zynischen, schnoddrigen Ton, dessen Handlungsleere mit der Zeit gewaltig nerven kann. „Das Frauen-such-Ding hatte sich wieder eingeschaltet – ein weiteres Anzeichen dafür, dass der Landeflug eingeleitet war. Ja schade, es fiel Gieseking fortan kein Grund mehr dafür ein, sich durch die Hallen zu treiben, außer dem einen, üblichen, immer besten, blödesten: Frauen.“ Zwar legt von Uslar einige Hauptstadtklischees bloß und charakterisiert ein paar von Giesekings Freunden auf eine witzige Art und Weise, aber das entschädigt nicht dafür, dass eigentlich nichts mehr passiert. Die einzigen Ereignisse im zweiten Teil des Buches sind nur noch das scheinbar grundlose Treffen Giesekings mit dem alten von Galgern, Ellens Vater, und das zufällige Aufeinandertreffen zwischen Gieseking und Ellens verlorenen Bruder Fred von Galgern.
Waldstein oder Der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005 ist eine Mischung aus einer modernen Wertherdarstellung – der bürgerliche Mann, der die Adelige nicht bekommt, beschrieben im Tonfall von Plenzdorfs Wertheradaption –, der scharfen Konsum- und Amüsementkritik von American Psycho – allerdings mehr mit sprachlichen als mit inhaltlichen Mitteln – und einem deutschen Poproman. Von Uslars Herangehensweise an den Roman, die Brandmarkung des oberflächlichen Lebensstils seiner Generation in einer gewollt witzigen und süffisanten Sprache, scheint zunächst vielversprechend und funktioniert im ersten Teil des Romans auch. Leider versagt sie später aufgrund der fehlenden Handlung und ist deshalb nichts weiter als das, was von Uslar kritisieren wollte: eine Blendung.
Moritz von Uslar
Waldstein oder Der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005
Roman
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006
Moritz von Uslar wurde 1970 in Köln geboren. Volontariat bei der Zeitschrift Tempo, von 1992 bis 2004 Redakteur und Autor beim Süddeutsche-Zeitung-Magazin. Er schrieb Erzählungen und Theaterstücke. Freunde (2000), Freunde II (2001), Lulu (2004) und 100 Fragen an Heiner Müller (2005). Waldstein oder Der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005 ist sein erster Roman. Der Autor lebt in Berlin.
© 03.04.2006 Katharina Bendixen Print