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Ugo Riccarelli
Der vollkommene Schmerz
Roman
Zsolnay 2006
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Gibt es historische Romane über ein Dorf, über drei bis vier Generationen von Menschen und deren Schicksalen, ohne dass sich ihre Beschreibung von Lieben und Sterben und Unglück in Klischees verliert? Es gibt sie: Louis de Bernières' Roman
Traum aus Stein und Federn beschreibt beispielsweise mehr als klischeeartige Trauer über Todesfälle in kleinen Dörfern aufgrund großer geschichtlicher Ereignisse. Ugo Riccarelli – so viel sei vorweggenommen – gelingt dies in
Der vollkommene Schmerz jedoch nicht.
Denn der Schmerz ist zu „vollkommen“ – fünfzehn Mal ist er dies, und während der Lektüre wartet man schon mit zusammengebissenen Zähnen darauf, wann diese Formulierung wieder auftaucht. Zum ersten Mal denkt der Maestro, Lehrer in dem kleinen italienischen Dorf Colle, über den vollkommenen Schmerz der Arbeiter nach. Im ausgehenden 19. Jahrhundert hat er sich der italienischen Anarchistenbewegung angeschlossen und wird schließlich während einer Demonstration erschossen. Sein Sohn Cafiero heiratet Rosas Tochter Annina – Rosa erlebte den vollkommenen Schmerz übrigens bei ihrer Entjungferung durch den rauen Schweinehirten Odysseus –, und auch Cafiero stirbt, weil er sich der linken Bewegung in Italien angeschlossen hat, während Annina drei Kinder allein und verarmt aufziehen muss.
Zahlreiche Geburten und Todesfälle beschreibt Riccarelli vor den Geschehnissen der italienischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts: dem ersten Weltkrieg, der Spanischen Grippe, dem Zweiten Weltkrieg. Im Vordergrund stehen die Familien des Maestro und von Rosa, von Cafiero und Annina und das Landgut Partaio, auf dem die Familien gemeinsam leben, lieben und sterben. Es gibt dort die guten Menschen wie Annina und ihre Familie, die politisch links oder neutral sind, und es gibt die schlechten Menschen wie Odysseus und seine Brüder, von denen sich einer zum Bürgermeister von Colle erklärt und frei nach Mussolinis Prinzipien Menschen ins Gefängnis schickt und ermorden lässt. Diese eindeutigen und einfarbigen Charakterzeichnungen erleichtern zumindest die Orientierung in dem Wirrwarr von Kindern, Geschwistern, Hochzeiten und Todesfällen.
Immerhin sind die geschichtlichen Ereignisse gut nachvollziehbar mit den Schicksalen der Familien und des italienischen Dorfes verknüpft und geraten so nicht in den Verdacht, lediglich Mittel zum Zweck zu sein. Das Panorama des wechselvollen zwanzigsten Jahrhunderts Italiens integriert Riccarelli zweifellos gekonnt in die Handlung. Aber der Roman verharrt auf einer beschreibenden Ebene, Dialoge finden sich ebenso selten wie Reflexionen der Protagonisten.
Nur der Schmerz wird immer wieder herausgestellt, als wäre er das einzig Bemerkenswerte an der Familiengeschichte: „ein absoluter, totaler, vollkommener Schmerz“ packt etwa eines der zahlreichen Kinder, als es vom Tod seines Vaters erfährt, „ein behaglicher Schmerz, kreisrund und vollkommen“ Anninas Enkeltochter, als sie Anninas Bruder sterben sieht, ein „gleißender, vollkommener Schmerz“ den Bruder von Calfierno, als er von den Faschisten ermordet wird, und ein „dumpfer, vollkommener Schmerz“ Annina bei Cafieros Tod. Wenn dies ein stilistisches Mittel sein soll, dann ist es zu vordergründig und aufdringlich, um den tatsächlichen Schmerz von ungefähr einem Dutzend Menschen beim Tod von ungefähr einem weiteren Dutzend Menschen zu beschreiben.
Einige Einfälle von Riccarelli sind lesenswert und durchaus gut erdacht, beispielsweise die geistige Umnachtung des Schweinezüchters Odysseus, der sich schlussendlich mit einem Schweinedarm erhängt, oder das Perpetuum Mobile, das Anninas Sohn bauen möchte, besessen von der Idee der nicht versiegenden Energie. Doch selbst diese über einfache Klischees hinausragenden Episoden scheitern an ihrer Bedeutungsschwere ebenso wie an den zwei Wörtern, die schon im Romantitel stehen und die unweigerlich immer wieder auftauchen.