|
Grégoire Bouillier
Der Überraschungsgast
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
Nagel & Kimche 2008
|
Als die französische Künstlerin Sophie Calle nach einer längeren Reise 1979 nach Paris zurückkehrte, folgte sie fremden Menschen, um sich wieder an die Stadt zu gewöhnen. Ihre kleinen kriminalistischen Arbeiten dokumentierte sie anhand von Fotos und Berichten. Später ließ Calle sich von einem eigens beauftragten Detektiv selbst verfolgen, und auch dessen Material und damit ihr Privatleben machte sie der Öffentlichkeit in einer Ausstellung zugänglich. Der französische Schriftsteller Grégoire Bouillier lässt seinen Roman
Der Überraschungsgast zum größten Teil auf einer Party von Sophie Calle spielen und widmet ihn zudem der französischen Künstlerin. Und das ist kein Zufall.
Wie Sophie Calle legt auch Bouillier sein Wesen in
Der Überraschungsgast erstaunlich offen – wenn es denn seines ist. Die Fährten einer Entsprechung zwischen Ich-Erzähler und Autor werden schon zeitig gelegt, aber erst auf den letzten Seiten entlarvt sich der Erzähler eindeutig als Grégoire Bouillier, als ein Mann, der das Leiden liebt, als ein Experte im Zurechtlegen der Realität, der dem realen Bouillier entsprechen, einen fiktiven Bouillier darstellen oder ein Zwischending sein könnte. Am Todestag des französischen Schriftstellers Michel Leiris erhält Bouillier einen Anruf einer Verflossenen, die ihn zur Geburtstagsfeier von Sophie Calle einlädt. Calle hat die Angewohnheit, ihren Geburtstag mit so vielen Gästen zu feiern, wie ihr neues Lebensjahr zählt, und zusätzlich einen Überraschungsgast einladen zu lassen, der in diesem Jahr Bouillier sein soll. Für Bouillier, der sich zwar Gedanken über das passende Geschenk macht und schließlich eine Flasche 1964er Margaux ersteht, die mehr kostet als seine Monatsmiete, stellt jedoch nicht die Einladung zu Calles Geburtstagsfeier die eigentliche Sensation dar, sondern der Anruf seiner Verflossenen.
Sofort entsteht in ihm die Hoffnung, sie wieder für sich gewinnen zu können, gemischt mit dem Überfall längst überwunden geglaubten Leidens. Es kann schließlich kein Zufall sein, dass seine Verflossene ihn an einem Sonntagnachmittag zu Calles Feier einlädt, hat sie ihn doch auch an einem Sonntagnachmittag verlassen. In Bandwurmsätzen, voller Ironie und mit einer fast unerträglichen Dehnung der Erzählzeit reflektiert Bouillier die vergangene Beziehung, ihre Auswirkungen auf die Gegenwart und ihre mögliche Wiederanknüpfung. Die Feier ist für ihn gelaufen, als er erfährt, dass Sophie Calle ihre Geburtstagsgeschenke niemals öffnet, sondern sie für Kunstwerke verwendet. Ohnehin kommen ihm die versammelten Schriftsteller, Intellektuellen und Journalisten vor wie „Brotstücke, die schon seit einer Woche in einer Schüssel Milch schwammen“.
Bouillier verwischt in seinem Roman die Grenzen zwischen Literatur und Leben und verwendet damit das literarische Genre Autofiktion, für das es noch nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag gibt, so ungeklärt ist diese Begrifflichkeit für eine Variante eines postmodernen Romans. Autofiktion in narzisstischem Ausmaß kann erfindungsfrei eine Episode der Autobiografie des Autors schreiben; genauso kann sich Autofiktion aber vom Autoren-Ich lösen und lediglich eine Variante seines Lebens beschreiben, wie sie sich tatsächlich nicht zugetragen hat. Romane wie
Lunar Park von Bret Easton Ellis oder
Das bin doch ich von Thomas Glavinic zeigen, dass eine Zuordnung zu den verschiedenen Varianten der Autofiktion selten möglich ist und die Übergänge schon innerhalb eines Romans fließend sein können.
Welche Variante der Autofiktion in
Der Überraschungsgast vorliegt – ob reine Autofiktion, wie es der Klappentext des Verlags und der Abdruck von offensichtlich authentischen Quellen wie Sophie Calles korrigiertem Exemplar ihres
Rituel d'anniversaire suggerieren, oder nur eine spielerische mit wenigen Übereinstimmung zwischen Erzähler und Autor –, spielt für die Beurteilung der literarischen Qualität letztlich keine Rolle. Dass der Anruf von Bouilliers Verflossenen genau am Todestag von Michel Leiris erfolgt, dem französischen Schriftsteller, der in seinem Essay
Literatur als Stierkampf (
La littérature considerée comme une tauromachie, 1939) den Schriftsteller mit einem Torero vergleicht, der das eigene Ich gleich einem Stierkämpfer aufstacheln und besiegen muss, um seine biografische Identität in Frage zu stellen, ist bei einem rein autobiografischen Roman fast zuviel des Zufalls. Aber wie auch immer das Verhältnis zwischen Fiktion und Realität gestaltet ist, fest steht, dass Bouilliers Spiel Spaß macht.