|
|
Ulla Lenze
Gespräch mit Katharina Bendixen für den poetenladen
»Ab einem bestimmten Punkt kann ich das Buch spüren«
Gespräch |
|
Ulla Lenze in poet nr. 19
Thema der poet-19-Gespräche: Literatur und Glaube
Ulla Lenze, geboren 1973 in Mönchengladbach, studierte Musik und Philosophie in Köln und lebt heute in Berlin. Für ihren Debütroman Schwester und Bruder (2003) erhielt sie u.a. den Ernst-Willner-Preis und das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium. Ulla Lenze war Gast am Atelier Galata in Istanbul und Writer-in-Residence in Mumbai. Zuletzt erschien ihr Roman Die endlose Stadt (2015).
.
Katharina Bendixen: Du beschäftigst dich in deinen Büchern stark mit dem Glauben. Besonders in den ersten zwei Büchern finde ich das sehr deutlich. Wenn du anfängst zu schreiben, überlegst du dir da vorher, woran deine Hauptfiguren glauben? Ist das eine wichtige Frage für dich, um eine Figur entstehen zu lassen?
Ulla Lenze: Meine Figuren werden stets von einer Idee, vielleicht auch einem Glauben beherrscht. Das beginnt in meinem Debütroman mit einem jungen Mann, der sich von der indischen Spiritualität Heilung und Rettung verspricht. Der zweite Roman Archanu handelt von einer jungen Frau, die sich auf den Weg in eine utopische Gemeinschaft macht, allerdings mit allerhand Zweifeln im Gepäck. Im dritten Roman wiederum geht es um das Recht, bedingungslos zu trauern, und zwar ohne einen metaphysischen Trost die Protagonistin lässt als Realität nichts zu als die nackte Erfahrung des Schmerzes. Im aktuellen Roman Die endlose Stadt gilt der Glaube dann vollends nicht mehr spirituellen Ideen, sondern der Kunst und auch der Suche nach Integrität in einer zerrissenen Welt. Die Figuren spiegeln meist wider, was ich selber in einer bestimmten Lebensphase thematisch für interessant und wichtig halte, und sie tragen es dann auf ihre eigene Weise aus – ich plane das also nicht bewusst.
K. Bendixen: Steht die Figur mit ihrer Idee oder ihrem Glauben an erster Stelle? Entsteht aus ihr der Roman?
U. Lenze: Bei den ersten zwei Romanen vielleicht schon. Der Glaube an eine Utopie oder einen spirituellen Weg ist ja auch Thema dieser Bücher. Entsprechend gesellt sich dann in beiden Fällen antagonistisches Figurenpersonal hinzu, das für Gegenwind sorgt, für Widerspruch, Spott, Streit und Überraschendes. Bei den folgenden zwei Büchern ist das viel indirekter. Wenn wir Glaube als Überzeugungen definieren, dann würde ich vielleicht zustimmen – weil ich im dritten Buch zum Beispiel zeige, wie der Tod und eine Lebenskrise die Heldin zu einem Nullpunkt zurückführen. Oder im letzten Buch, wie eine prekarisierte Künstlerin im verwirrenden und verlockenden Kontakt mit einem reichen Kunstsammler darum ringt, ihre Kunst und ihre Werte nicht zu verraten. Ich würde trotzdem nicht sagen, dass bei mir ein Roman aus der Glaubensdisposition einer Figur entsteht. Da spielt natürlich so vieles mehr noch mit hinein.
K. Bendixen: Und zwar – was spielt mit hinein? Oder anders gefragt: Wann genau springt der Funke über und du weißt, über diesen Stoff möchte ich schreiben? Ist das eine bestimmte Szene, eine bestimmte Figur, ein Satz?
U. Lenze: Schwester und Bruder ist mit einer guten Portion Anfängerglück innerhalb nur eines Jahres entstanden. Zuerst gab es nur das erste Kapitel, das als abgeschlossene Erzählung gedacht war. Aber die beiden Hauptfiguren, Schwester und Bruder, schrieben sich weiter. Diese Grundkonstellation gläubiger, leicht penetranter Bruder und skeptische, kühle Schwester – machte einfach Spaß. Wenn ich jetzt in diese Zeit zurückschaue, komme ich mir vor wie ein amerikanisches Spielfilm-Stereotyp der fiebrig-inspirierten Jungautorin. Später musste ich viel mehr kämpfen: ausprobieren, verwerfen, warten, bis sich endlich eine Erzählsituation einstellte, der ich vertrauen konnte. Dieses Vertrauen läuft nicht über kalkulierendes, analytisches Denken, sondern über das Gefühl. Ab einem bestimmten Punkt kann ich das Buch spüren. Dieses Gefühl ist körperlich. Ich habe mir das von anderen Autoren immer mal bestätigen lassen, es scheint tatsächlich ein allgemein existierendes Begleitphänomen zu sein. Allerdings hört man darüber wenig, vielleicht weil es ein bisschen mystisch klingt und unergiebig ist für weitere Erörterungen. Jedenfalls ist es qualitativ zwar anders als das Verliebtheitsgefühl, dennoch ähnlich in der Hinsicht, dass es durch sämtliche Regionen des Ichs rauscht. Wenn dieses Gefühl sich meldet, weiß ich: Das wird ein Buch.
K. Bendixen: Wow! Ob das auch etwas mit Glauben zu tun hat, dazu später. Jetzt möchte ich noch bei deinen Büchern bleiben. Noch einmal zurück zu Schwester und Bruder, zu dem ungleichen Geschwisterpaar, das gemeinsam durch Indien reist – da hatte ich beim Lesen das Gefühl, dass Lukas sich an einer Grenze befindet zwischen Glauben und Verrücktheit. Gibt es eine Grenze, in der Glauben in etwas anderes umschlägt? Kann man diese Grenze irgendwie bestimmen?
U. Lenze: Das leicht Verrückte beginnt eigentlich schon damit, dass Lukas behaupten würde: »Das ist kein Glaube, sondern Wissen!« Er hat diesen Absolutheitsanspruch, der zu einem religiösen Offenbarungserlebnis gehören kann. Glauben ist ja für Lukas gerade kein theoretisches Für-möglich-und-wahrscheinlich-Halten. Er verweist da neben den spontanen Alleinheitserlebnissen auf teils verstörende bis schrille Erlebnisse Visionen, Inkarnationseinsichten, nachts im Traum spontanes Sanskritreden. Im Grunde bewegt sich Lukas in einem sehr rationalen Denken, denn er hat Beweise. Die sind allerdings nur für jene aussagekräftig, die zu den Eingeweihten gehören. Das Buch ist ja ein langer Disput mit der skeptischen Schwester, und da geht es vielleicht auch um die Sehnsucht, dieses Unteilbare teilen zu können, aus der Einsamkeit des Mystikers oder Erwachten befreit zu werden vielleicht auch von einem elitären Dünkel, der ja eher unheilig ist.
K. Bendixen: Ja, seltsam, das stimmt Erleuchtung hat etwas Elitäres. Dieser Gedanke passt gut zu deinem zweiten Buch. In Archanu macht sich die Hauptfigur Marie in eine Art Kommune auf, um zu sich selbst und vor allem zu einer Wahrheit zu finden. Dort geht es allerdings eher autoritär, wenn nicht elitär zu. Marie und Lukas sind ungefähr im selben Alter ist der Glaube an Erleuchtung eigentlich ein Vorrecht der Jugend?
U. Lenze: Als Nichterleuchtete kann ich mir natürlich kein Urteil über Erleuchtung bilden. Aber bestimmte Bilder, die man damit assoziiert, muten schon elitär an leise lächelnd rumsitzende Mönche, Gurus, Yogis, die mit dem menschlichen Kleinkram nichts mehr zu tun zu haben scheinen. Das wirkt erhaben und herzlos. Es gibt aber auch das Gegenteil davon, zum Beispiel im Mahayana-Buddhismus. Dort verzichtet der Bodhisatwa aufs eilige Verschwinden ins Nirwana und inkarniert sich solange, bis er alle Wesen gerettet hat. Das finde ich sympathisch. Problematisch wird es meiner Meinung nach, wenn das Absolute gegen das Endliche ausgespielt wird mit der Konsequenz, dass verbindliche ethische Grundlagen nicht mehr gelten. Das erklärt mitunter wohl auch die häufigen sexuellen und emotionalen Missbrauchsfälle in religiösen und spirituellen Gemeinschaften. Was ursprünglich Raum für Erleuchtung oder auch nur ein bisschen mehr Licht hätte bieten sollen, wird überformt von autoritären und auch kommerziellen Strukturen. Das war auch meine Beobachtung in Auroville, der bekannten internationalen Gemeinschaft in Südindien, die Vorbild war für Archanu. Auroville hat einen erstaunlich guten Ruf, wirkte auf mich aber leider wie ein an den internationalen Erleuchtungsmarkt angeglichenes Wirtschaftsunternehmen mit neo-kolonialen Zügen abgesehen von ein paar verstreuten Idealisten. Seit ein paar Jahren tauchen auf diesem Erleuchtungsmarkt wiederum ganz andere Lehrertypen auf, Anti-Gurus mit Nähe zu psychotherapeutischen Ansätzen, wie Adyashanti, Karl Renz, Jeff Foster. Aber das führt hier womöglich zu weit.
K. Bendixen: Vielleicht nicht was sind das denn für Typen? Oder anders gefragt: Was sagt es überhaupt über unsere Gesellschaft aus, dass hier ein Erleuchtungs markt entstanden ist? Brauchen wir den Glauben?
U. Lenze: Auffallend ist zumindest, dass die genannten Lehrer eher desillusionierende, dekonstruierende Arbeit leisten und damit offenbar einen Nerv treffen. Als wäre da über Generationen seit Vivekandanda den Yoga 1893 nach Amerika brachte eine leise Erschöpfung in der westlichen Weisheitssuche entstanden, die endlich eingestanden werden darf. Natürlich findet auch das als Angebot auf dem Erleuchtungsmarkt statt, aber das gehört eben zu den normalen Widersprüchen, mit denen man es auch in den künstlerischen Disziplinen zu tun hat subversive Inhalte in etablierten, kommerziellen Formen.
K. Bendixen: Zurück zu den Büchern sind Lukas und Marie eigentlich naiv?
U. Lenze: Naiv ist wahrscheinlich der Glaube an eine Wahrheit oder Erleuchtung, die sich tatsächlich planen, organisieren, herstellen, gemeinschaftlich einkesseln und hüten ließe. Das basiert auf erleuchtungsfernem Leistungs- und Konsumdenken. Solche Selbstwidersprüche sind aus vielen Zusammenhängen bekannt, etwa dass eine Lösung dann aufscheint, wenn man aufhört, über das Problem zu grübeln was aber auch bedeuten kann, dass diese Vorarbeit durchaus dazu gehört. Den Glauben an Erleuchtung in der Form, wie ich sie gerade beschrieben habe, würde ich daher als phasenweise vielleicht sogar notwendige Naivität bezeichnen. Und so eine Phase kann in jedem Alter auftreten, das ist nicht ans Jungsein gebunden.
K. Bendixen: Im dritten Roman habe ich dann das Gefühl, dass du nach und nach alles zerschlägst, was du an Glauben in den ersten zwei Romanen aufgebaut hast: In Der kleine Rest des Todes wird Ariane mit dem Unfalltod ihres Vaters konfrontiert. Vorhin hast du schon gesagt, dass es in diesem Roman für dich um das Recht zu trauern geht, ohne einen metaphysischen Trost. Ist dieser Roman für dich eine Art Tabula rasa?
U. Lenze: Ja, auf doppelte Weise. Einerseits hatte der Roman für mich als Schreibende eine Tabula-rasa-Funktion, andererseits ist sein Thema die Rückkehr zur Nullstelle. Wenn wir in die Enge getrieben werden durch eine extreme Krise was passiert dann mit unseren Überzeugungen, zumal mit den spirituellen? Vielleicht klammert man sich noch mehr an sie. Ich fand es jedoch ebenso plausibel, vorbeugend-misstrauisch jeden metaphysischen Halt zu verweigern und in die Dunkelheit eines ungeschützten Schmerzes hinabzusteigen. Auch zuzulassen, erst einmal gar nichts mehr zu wissen. So paradox das ist: immerhin ist da etwas Zuverlässiges, was auf einen wartet. Ariane wird also mit ihren Ängsten, Nöten und ihrer Einsamkeit konfrontiert und liefert sich dieser Erfahrung völlig aus nicht heroisch, sondern alternativlos. Es ist, als hätte der Tod alle bisherigen Lebensstrategien und Identitätsgewissheiten mit sich gerissen. Eine Kritikerin schrieb, der Roman sei auch ein Abschied vom System der Väter, was ich sehr treffend fand.
K. Bendixen: Dein neuer Roman Die endlose Stadt ist zumindest was die zwei Handlungsebenen betrifft komplexer als die ersten drei Bücher. Vielleicht zu Anfang eine banale Frage: Weshalb hast du diesmal statt der Ich-Perspektive der ersten drei Romane das personale Sie gewählt?
U. Lenze: Nach drei Romanen wollte ich das mal ausprobieren. Außerdem erzählen ja zwei Hauptfiguren im Wechsel, und zwei erzählende Ichs konnte ich mir nicht so gut vorstellen. Das Ich ist viel distanzloser, auch irgendwie absolut und funktioniert für mein Empfinden nur als die eine, ausschließliche Perspektive. Es war erstaunlich leicht und natürlich, nach so viel Ich schließlich in die dritte Person zu wechseln.
K. Bendixen: Diesmal geht es um Kunst, um die Verantwortung des Künstlers, auch die Verantwortung des Menschen. Aber vielleicht ist das nur auf den ersten Blick ein Unterschied zu den bisherigen Büchern. Denn in dem Roman heißt es unter anderem, für eine der beiden Hauptfiguren die bildende Künstlerin Holle Schulz ist die Kunst »eine Lebensweise, ein Schicksal, eine Art Religion«, also auch ein Glaubenssystem. Gilt das auch für die Literatur und die Autorin Ulla Lenze?
U. Lenze: Dass ich eine Künstlerin mit geradezu religiöser Hingabe der Kunst gegenüber ausstatte, hatte auch dramaturgische Gründe: Nur so kann es zum Duell kommen zwischen ihr, der Geld nur wichtig ist, um ihre Kunst finanzieren zu können, und dem reichen Kunstsammler, der Kunst als Geldanlage begreift. Und damit verbinden sich auch alle Fragen, die sehr zugespitzt lauten würden: Wenn wir uns entscheiden müssten zwischen Kunst oder Geld, was würden wir wählen? Was macht uns glücklicher, was macht uns freier? Mit Kunst meine ich übrigens alle Kunstformen, von Musik, Film, Theater bis zur Literatur. Und wenn man so will klar, da habe ich auch für mich schon vor langer Zeit eine Entscheidung getroffen.
K. Bendixen: Um diese Entscheidung zu treffen, braucht man einen starken Glauben, oder? Denn sie steht ja konträr zu dem, was die Gesellschaft honoriert. Andererseits bewegt man sich dann natürlich in einem Milieu, das wiederum honoriert, dass man sich quer zur Gesellschaft stellt.
U. Lenze: Ich würde das abgemildert eher Vertrauen nennen. Vertrauen in die eigene Arbeit und ihre Relevanz. Das klingt hochmütig, aber ohne wäre es schwierig. Denn wie du sagst: Man steht quer zur Gesellschaft. Künstlern jeglicher Disziplin wird Bewunderung gern dann und nur dann gezollt, wenn sich ihr meist subversives Tun in die Mainstream-Kultur integrieren lässt. Wenn es also mediale Aufmerksamkeit oder ökonomische Erfolge gibt, die den Künstler zum erfolgreichen Unternehmer erheben und unanfechtbar machen. Es scheint aber allgemein eine unterschwellige Faszination gegenüber Lebenswegen zu geben, die sich anders legitimieren als über äußere und messbare Erfolge, nämlich aus dem Innern heraus. Möglicherweise liegt hier die Schnittmenge mit der Religion, die ja auch ein ähnliches Ideal vom unkorrumpierbaren Menschen vertritt.
K. Bendixen: Vorhin hast du ja von diesem Gefühl gesprochen, ab dem du ein Buch spüren kannst, ähnlich dem Verliebtheitsgefühl. Was außer diesem Gefühl brauchst du noch, um einen Roman zu Ende zu schreiben?
U. Lenze: Vielleicht das, was ich gerade beschrieben habe: das Vertrauen, dass wir freie Menschen sind. Ein Buch richtet sich an diese Freiheit im Leser und im Schreibenden, der ja auch der Leser seines eigenen Buchs ist ganz unabhängig vom konkreten Inhalt. Ohne diesen Glauben, eine Art utopischer Überschuss, wäre das Schreiben und auch Beenden nicht möglich.
K. Bendixen: Zum Schluss wenn du es dir aussuchen könntest, würdest du gern an etwas anderes als die Freiheit und die Kunst glauben? Wärest du zum Beispiel gern eine Erleuchtete?
U. Lenze: Ich bin eigentlich ganz zufrieden mit der Möglichkeit, Romane schreiben zu können. Als Erleuchtete würde ich vielleicht stattdessen erbauliche Lebenshilfe-Bücher verfassen, und das fände ich schade.
K. Bendixen: Vielen Dank für das Gespräch!
|
|
|
Katharina Bendixen
Prosa
Reportage
Gespräch
|
|