Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer „Gedenksteine“ in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
Abraham Sutzkever
(Smorgon / Litauen1913 – Tel Aviv 2010)
Erfrorene Juden
Hast du gesehen auf verschneitem Gelände
erfrorene Juden, Reih' um Reih' und kein Ende?
Sie liegen ohne Atem, blau, marmorn erstarrt,
doch in ihren Leibern der Tod noch nicht harrt.
Noch irgendwo funkelt erfroren der Geist,
ein goldener Fisch, in einer Welle vereist.
Sie reden nicht. Schweigen nicht. Sinnen bedacht.
Erfroren die Sonne im Schnee auch bei Nacht.
In eisigem Frost glüht auf rosigen Lippen
ein Lächeln – es kann sich nicht rühren.
Eng an der Mutter liegt hungrig das Kind.
Seltsam: sie kann es nicht säugen geschwind.
Es ragt auf eine Faust. Ein nackter Greis,
der kann seine Kraft nicht befreien vom Eis.
Ich habe allerlei Tote beurteilt bis jetzt.
Lang her, daß mich einer in Staunen versetzt.
Nun in der Julihitze inmitten einer Gasse,
springt der Frost mich an mit Wahnsinnsgrimasse.
Mir kommen entgegen die Gebeine ganz blau
erfrorene Juden, verschneit ist die Au.
Meine Haut überzieht sich mit marmorner Schicht,
langsam bleibt aus das Wort und das Licht.
Auch meine Bewegung friert ein, wie beim Greis,
der kann seine Kraft nicht befreien vom Eis.
Moskau, 10ter Juli 1944
Aus:
Lider fun geto, 1946. Übersetzt von Maimon Maor und Hans Thill.
»Es gibt einen Ausspruch von Mallarmé, wonach der Dichter nicht so sehr der Erfinder neuer Worte, sondern ein Finder neuer Plätze für sie sei. Sutzkever hat beides getan: er erfand neue Wörter und neue Plätze für sie, neue Kombinationen von Wort und Klang. Aber die unverwechselbare Präzision und Frische von Sutzkevers jiddishem Vers verlangt einen Leser, der den vielsprachigen und vielschichtigen Kontext des ›saftigen‹ Jiddish kennt und zugleich die Effekte modernistischer Poesie zu schätzen weiß.«
Benjamin Harshav
Abraham Sutzkever wurde am 15. Juli 1913 in Smorgon bei Wilna geboren und starb am 19. Januar 2010 in Tel Aviv in seinem 96. Lebensjahr. Er gehörte zu den bedeutendsten Gegenwartsautoren jiddischer Sprache.
Sein erster Gedichtband erschien 1937 unter dem Titel Lider. 1943 gelang Abraham Sutzkever zusammen mit seiner Frau die Flucht aus dem Wilnaer Ghetto. 1947 emigrierte er nach Israel, wo er bis zu seinem Tod lebte. Auf Deutsch erschien zuletzt: Wilner Getto 1941–1944 (Ammann Verlag, 2009).
13.02.2010