Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer „Gedenksteine“ in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
Guntram Vesper
(Frohburg 1941 – Göttingen 2020)
Eine Art Abschied
Manchmal denke ich noch
an den finsteren Bahnhof
morgens um sechs, an die
stinkenden Pfützen
Katzen gab es dort, die mich
zwei Jahre erschreckt und
zum Abschied
gewärmt haben.
Als ich endlich im Zug saß
stürzte der Wagen dröhnend
in immer entferntere, immer
engere Täler
bei jedem Halt das Zischen
des Dampfes, ein Klopfen von
Eisen, dann weiter
und weiter.
Aus: Tieflandsbucht. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2018.
»Zeitgeschichte und Lebensgeschichte sind in jedem Gedicht Vespers gegenwärtig. […] Krieg, Nachkrieg, zwei deutsche Staaten, die Grenze, das alles und mehr wird benannt, aber sie stehen auch unbenannt in Vespers Texten. […] Das Gedicht ist die Sprachform seines Eingedenkens.«
Peter Horst Neumann
Guntram Vesper wurde 1941 in Frohburg (Sachsen) geboren und flüchtete mit seiner Familie 1957 in die Bundesrepublik. Nach Tätigkeiten im hessischen Braunkohltagebau studierte er zeitweise Germanistik, später Medizin und Geisteswissenschaften. Seine ersten Gedichte erschienen in der Eremiten-Presse, es folgten neben zahlreichen Lyrikbänden Hörspiele, Fernsehfilme, Prosabände und der Roman Frohburg (2016), der ihn bei einem breiteren Publikum bekannt machte. Zuletzt veröffentlichte er den Gedichtband Tieflandbucht bei Schöffling 2018. Guntram Vesper starb im Alter von 79 Jahren im Oktober 2020 in Göttingen.
24.10.2020