Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer „Gedenksteine“ in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
Gerald Locklin
(Rochester/USA 1941 – Irvine 2021)
ich bin nicht gerald locklin
den namen »gerald« habe ich immer gehasst.
als ich anfing zu schreiben, bnutzte »gerald«,
weil ich dachte, von einem schriftsteller wird erwartet,
dass er einen richtigen namen hat. manchmal, wie
nur marvin malone noch wissen und eine handvoll anderer,
liess ich mich sogar zu »gerald ivan locklin« hinreissen,
um meine flüggen literarischen produkte mit einer falschen
poetizität auszustatten. heute benutze ich noch immer
»gerald i. locklin« für offizielle dokumente, weil es ganz
offensichtlich viele »gerald locklins« gibt,
die hier überall herumrennen.
ich wurde nach einem onkel »gerald« getauft, der jung
starb, bevor ich geboren wurde, an tuberkulose.
er war vermutlich ein sehr netter mann, aber, einmal
abgesehen von seinem hinscheiden, wollte ich nie
er sein. als kind wollte ich nicht einmal »gerrie«
sein: dieser name wurde mir in der schule gegeben.
zuhause war ich »jodie«, ein name, auf den ich selbst kam,
als ich im gitterbettchen vor mich hinbrabbelte.
vermutlich aber nicht die weibliche schreibweise
des namens, sie hat mich freilich nie gestört.
heute nennen mich nur noch zwei leute »jodie«:
eine tante, die als einzige noch am leben ist,
und ron koertge. manchmal nennt ron mich »bär«
wie mein erster und einzig guter karate lehrer
vor fünfundzwanzig jahren, kurz bevor es ihn in einer
heissen kiste erwischte. »bär« ist schmeichelhaft,
also habe ich natürlich nichts dagegen einzuwenden.
manchmal nennt meine frau mich auch »jodie«,
aber dann mit spott in der stimme. ich nenne mich
manchmal »kröte«, besonders in gedichten, obwohl
diese kröte nicht immer ich bin. john owen nennt mich so,
laut, wenn ich ihm öffentlich in die quere komme.
george carroll ebenso. und paul der barmann.
sie tun das mit zuneigung, denke ich.
ich glaube, heute wäre mein favorit einfach »ger«.
leute, die mich so nennen, kriegen offenbar
wirklich einen kick dabei. mir hat es immer gefallen,
wenn ich für leute ein grund zur belustigung war.
offen gesagt, finde ich mich oft selber ziemlich lustig.
und »ger« klingt jugendlich, jungenhaft, was ich häufig
noch gern wäre. ja, nenn mich einfach »ger«, und ich
verschone dich von allen märchen über weisse wale,
das verspreche ich dir.
Übersetzt von Hans Thill. Aus: The last round-up, Warmwood #143, 1996
»Wenn es die Aufgabe eines Dichters ist, Mythen in die zeitgenössische Sprache ›des Volkes‹ zu übersetzen, dann erledigt Locklin seine Aufgabe bewundernswert, obwohl, wie er (...) sagt, die Leute, für die er schreibt, keine Gedichte lesen.«
Edward Field
Gerald Locklin wurde 1941 in Rochester (New York) geboren, wo er auch aufwuchs. Nach seinem Studium lehrte er an der Universität Professional Writing und unterrichtete später als Professor für Englisch an der California State University in Los Angeles. Seit 1970 verband ihn eine Freundschaft mit dem 20 Jahre älteren Charles Bukowski. Seine ersten Gedichte veröffentliche er im Magazin Wormwood Review, 1967 erfolgte sein Debüt mit dem Band Sunset Beach (Hors Commerce Press). Es folgten zahlreiche Publikationen, neben Lyrik auch Prosa, Essays und Rezensionen. Gerald Locklin starb m Januar 2021 mit 79 Jahren in Irvine, Kalifornien.
18.07.2021