Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer „Gedenksteine“ in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
Philippe Jaccottet
(Moudon / Schweiz 1925 – Grignan / Frankreich 2021)
Die Entfernungen
Es kreisen die Mauersegler hoch in der Luft:
Höher noch kreisen die unsichtbaren Gestirne.
Wenn der Tag sich zurückzieht an die Enden der Welt,
erscheinen diese Lichter auf der Weite von dunklem Sand ...
So bewohnen wir ein Reich aus Bewegungen
und Entfernungen; so geht das Herz
vom Baum zum Vogel, vom Vogel zu den fernen Gestirnen,
vom Gestirn zu seiner Liebe. So wächst die Liebe
in dem verschlossenen Haus, kreist und arbeitet,
Dienerin der Sorgenvollen, eine Lampe in der Hand.
Übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Aus: Der Unwissende.
Gedichte und Prosa 1946–1998. Hanser, München 1990.
Deutsche Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Hanser Verlags.
»Jaccottet setzt auf die vergängliche Lebendigkeit der Welt. Er feiert nicht ›die Natur‹, er lebt mit ihr, mit den Bäumen und Steinen, mit uns. Das macht seine Größe aus.«
Joachim Sartorius
Philippe Jaccottet wurde 1925 in Moudon, Schweiz, geboren und besuchte in Lausanne Schule und Universität. Sein erster Gedichtband (L'Effraie et autres poésies) erschien 1953. Neben der eigenen Dichtung trat er als Übersetzer hervor und übertrug Werke wie die Odyssee, Musils Mann ohne Eigenschaften und Rilkes Duineser Elegien. Er wurde sowohl als Dichter als auch als Übersetzer vielfach ausgezeichnet. Bereits 1953 war Philippe Jaccottet nach Grignant in Südfrankreich gezogen, wo er bis zu seinem Tod im Februar 2021 mit der Malerin Anne-Marie Haesler lebte.
18.03.2021