Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer „Gedenksteine“ in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
Lars Norén
(Stockholm 1944 – ebenda 2021)
Celan
»Niemand zeugt für den Zeugen«
1
Erst von der Freiheit angesteckt werden.
Freiheit unter den Toten. Dort dir selbst
begegnen von den Schläfen der Liebe. Ständig,
Schritt für Schritt, im Ankunftsschock.
2
Geborgenheit finden. Alles muß erneut
aufgebaut werden, ohne Grund. Der Name
zerfällt, wie eine Stadt. Deine Anwesenheit
fegt das Dunkel der Stimme
auf der Feuerstätte des Sinns zusammen.
3
Das Verveilfältigen. Die Krankheit vom
Stacheldraht. Die nackten Pfähle.
Feuerstätte, zermalmt, entkleidet, erweckt.
4
Kunst der Verarmung; Gut und
Böse nach der Ungültigkeitserklärung;
die Zangen zum Licht hin
gebogen, in ihnen
lebt die Versiegelung; Krüge
der Löcher und Gräben; Kunst
der Begnadigung.
5
Brunnen brauchen
keinen Himmel.
Deine Haut ist zwischen die
Stangen geschmuggelt. Durch
das Seihtuch wird das
unmenschliche und persönliche Dunkel
in den Krug gepreßt, der überlebt hat.
6
Nachtfalter,
Mehl,
eine heilige Frucht,
Rilkeschlachthaken, Gitter,
die das Gitter zerbrechen.
Aus dem Schwedischen übersetzt von einer Gruppe des europäischen Übersetzer-Kollegiums
Straelen 1983. Zeitschrift die horen, Heft 135. Aus: Order. Stockholm 1978.
»Man kann diese Gedichte als eine Poetik lesen und kommt dann zu der Erkenntnis, wie das Gedicht und die Sprache trotz aller Zerbrechlichkeit, Verletzlichkeit und Selbstzerstörung etwas als Ganzes festhalten können. Dann wäre die Sprache wie der Rost, der haftet, ein Echo, zum Verschwinden verurteilt.«
Sindre Ekrheim
Dank an Klaus-Jürgen Liedtke
Lars Norén wurde 1944 in Stockholm geboren und wuchs in Genarp und Lund auf. Er begann seine literarische Laufbahn als Lyriker und veröffentlichte regelmäßig seit 1962 Gedichtbände. In den siebziger Jahren trat er als Dramatiker hervor und später auch als Regisseur. Zuletzt wirkte er als Intendant des Folkteaterns in Göteborg. Lars Norén erkrankte an COVID-19 und starb im Januar 2021 im Alter von 76 Jahren in Stockholm.
29.04.2021