Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer Gedenksteine in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
(Beirut 1925 – Paris 2021)
Kindheit
dieser Smaragdsee
auf der Rückseite meiner
Reise
hausen himmlische Hierarchien
ein Palmenwald
fiel über Nacht
um Platz zu machen einem unerwünschten
Garten
schon damals
haben Fieber und Schwellungen
mich in einen Fluss verwandelt
die Strassen waren steil
Winde rannten den Schiffen
vorneweg ...
Tatsächlich gab es den Tod von Vögeln
der Mond war verstorben.
*
Am Morgen nach seinem Tod
als Heimsuchung über sein bitteres Ende hinaus
kam seine Mutter an sein Grab:
sie nahm seine Knochen
aus ihrer Ordnung
und stippte sie in Schlamm:
Frauen kamen nachts
und erhoben Anspruch auf Rimbaud
in jener Nacht hat es stark
gedonnert es war beängstigend
*
Lorbeer und Flieder
blühen über meinem Kopf
weil ich mit der Sonne aufstand
Du siehst der Colorado River fließt
zwischen blühenden Ufern
Ich wiederhole meine Reise auf der Suche nach
dem Glück das deine Abwesenheit
überwand
Ich war froh dich nicht mehr zu lieben
bis der Sonnenaufgang den Osten
erreichte
und mein Floss auseinanderbrach
da waren andere unterirdische Flüsse
bedeckt mit toten Blumen
es war kalt es war kalt ja es war
kalt
*
Durch ein Zusammenwirken von Schmerz
und Maschinengewehrfeuer
verschwanden Blumen
nun also im selben
Zustand des Nichtseins
wie Emily Dickinson
Wir Toten treiben Konversation
in unseren Gärten
über unseren Mangel an
Existenz.
*
Der Gärtner pflanzt
blaue und weisse
Blumen
irgendein Engel kam mit mir rein
um der Kälte zu entkommen
steigende Temperaturen auf der
Erde
aber wir haben an uns einen
hartnäckigen Frost
jeder hat sein Sterben als
einen wachsenden Schatten bei sich.
*
Ich liess die Morgenzeitung
bei der Kaffeetasse stehen
die Hitze 85 wie das
Jahr
und ich ging zum Fenster um
jene Blumen zu finden die über nacht blühten
anstelle der Leichen
die im Krieg gefällt wurden
der Feind war gekommen mit Feuer
und List
um die Namen der Toten
in den Gärten von Yohmor zu stempeln
Und so schön
der Frühling ist
wir wollen doch schreiben was
im Dunkeln geschieht
*
Ein Schmetterling kam zum Sterben
zwischen zwei Steine
am Fuss des Berges
der Berg schüttete Schatten
darüber aus
zu verdecken das Geheimnis des
Todes.
Übersetzt von Hans Thill. Aus: The Spring flowers Own & The Manifestations of The Voyage. The Post Apollo Press, New York 1990.
»Mir scheint, dass ich schreibe, was ich sehe und male, was ich bin.«
Etel Adnan
Etel Adnan wurde 1925 in Beirut als Tochter einer Griechin und eines Syrers geboren und besuchte eine französische Schule im Libanon. 1945 begann sie ein Literaturstudium an der neugegründeten Beiruter Hochschule und ging anschließend nach Paris an die Sorbonne, wo sie einen Abschluss in Philosophie erwarb. Später lebte sie in Kalifornien und war dort als Gastdozentin tätig. Nach ihrer Rückkehr in den Libanon arbeitete sie für eine französische Zeitung und schrieb den Antikriegsroman Sitt Marie-Rose (Aus dem Französisch von Eva Moldenhauer, Suhrkamp 1988). Es folgen weitere Prosawerke, Hörspiele, Essays und Gedichte. Zudem wirkte sie als Malerin. Etel Adnan starb im November 2021 in Paris im Alter von 96 Jahren.
16.01.2022