Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer „Gedenksteine“ in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
Géza Szőcs
(Târgu Mureș 1953 – Budapest 2020)
Der Turm
Also dann an der Elfenbeinküste.
Dort habe ich einen riesigen Turm.
Dort schreibe ich meine politischen Gedichte.
Und ich habe einen winzigen Moloch.
In einer Kiste wohnt er, darin halte ich ihn, sie ist seine Provinz.
Sie ist seine Region, von mir genannt:
Molochien.
Im Vergleich zu mir ist das Molöchelchen ein Minderes,
ein Minderes, gemessen an mir,
meine Minderheit,
wahrlich ein Graus,
wenn ich heimkehre in den Turm an der Elfenbeinküste,
herrsche ich ihn gehörig an, züchtige ihn,
was hast du schon wieder angestellt
in meiner Abwesenheit,
so rede ich mit ihm, was randalierst, was wühlst und stänkerst du,
was soll das Zwiegequatsche, was für Legenden,
was für graussprachige molochige Universitäten forderst du?
Da läßt der Graus die Ohren hängen, zieht den Schwanz ein,
vergrault sich nach Molochien,
faucht mächtig,
später verzeih ich dero Gnaden,
werfe ihm einige Knochen hin,
na ja, so leben wir im Turm,
der Moloch und ich.
Elfenbeinküste am 21. Dezember 1998
Übersetzt von Hans-Henning Paetzke. Aus: Lacht, wie ihr es versteht. Gedichte.
Frankfurter Verlags-Anstalt, Frankfurt am Main 1999.
»Gedichte von Géza Szöcs sind überraschend verspielt und verstörend zugleich. Oft lesen sie sich wie Fahrpläne in einer phosphoreszierenden Sprachwelt, untergemischte Traumlandschaften in einem babylonischen Elfenbeinturm, der von Geheimdiensten beherrscht wird. Molochien, so nannte er sein Transsilvanien, in dem sein eigener Vater, auch er ein Schriftsteller, regelmäßig Spitzelberichte über ihn verfasste. Später ging er ins Schweizer Exil, kehrte zurück nach Molochien, wurde schließlich Politiker in Orbanistan. Was bleibt, sind seine erstaunlichen Gedichte.«
Klaus Hensel
Géza Szőcs wurde 1953 in Târgu Mureș (Siebenbürgen, Rumänien) geboren und studierte bis 1979 an der Babeș-Bolyai-Universitä Literatur. Von 1986 bis 1989 war er im politischen Exil in der Schweiz, wo er in Genf als Journalist arbeitete. Er leitete das Budapester Studio von Radio Free Europe und war Mitarbeiter der Zeitschrift Magyar Napló des ungarischen Schriftstellerverbands. Nach seiner Rückkehr nach Rumänien war er im dortigen Senat tätig und von 2010 bis 2012 Staatsminister für Kultur. Seit 1973 veröffentlichte er Gedichte, so erschien auf Deutsch unter anderem der Band Lacht, wie ihr es versteht (FVA 1999). Géza Szőcs starb im November 2020 in Budapest an Covid-19.
09.12.2020