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Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner lite­rarischer Gedenks­teine in Form eines Gedichtes jüngst ver­stor­bener Dichter, über­wiegend fremd­sprachiger, aber auch deutsch­sprachiger. Aus­gangs­punkt sind unter ande­rem aktuelle Todes­mel­dungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.

Liste der Stelen   ↓

 

Patrizia Cavalli
(Todi 1947 – Rom 2022)


Besuch
Daß sich mein Tod in einem Wunsch erfülle
beim Überschreiten einer Schwelle, ich ertrüge
sonst nicht wie aus meinen Augen
oder Erinnerungen das himmelblaue Tuch langsam schwindet,
die weiße Decke, das herrliche Licht,
das mein Zimmer erhellte.

Anders als der schwarzweiße Kater
der vor meinen Augen langsam stirbt
verfangen in seinen Reisen, auf denen er verwirrt
von sich selbst innehält, um die Richtung
zu einem Stuhl oder Heizkörper
zurückzuerobern und dann nach links und rechts schielend
sich zu einer vorgesehenen Wand schleicht.
Und doch, berührt man seinen Kopf
oder sagt seinen Namen,
ist sein berühmtes Schnurren wieder da.

Meiner Großmutter war ein nervöser
Zug geblieben, ein Widerwille anderen gegenüber,
ihr klar erinnerten Abneigungen.

Aus dem Italienischen übersetzt von Piero Salabè. Aus Il Cielo, (Einaudi, Turin, 1981)

 

»Meine Haltung gegenüber den Dingen [...] ist zeitgleich von einer völligen Distanziertheit und einer absoluten Zuwendung zu ihnen gekennzeichnet. Wie das möglich ist? Man muß bloß schizophren sein. Wer Lyrik schreibt, folgt einem doppelten Prinzip: Festhalten an und Bejahen der Realität und Kälte der Beobachtung.«
Patrizia Cavalli

 

Patrizia Cavalli wurde 1947 in Todi geboren und studierte Philosophie in Rom. Seit 1974 veröffentlichte sie Gedichte, die später in dem Band Poesie (1974–1992) bei Einaudi als Sammlung erschienen. Charakteristisch für ihre Dichtung sind die Verbindung von klassischen Versmaßen und Alltagsbeobachtungen. Bis zu ihrem Tod erschienen in größeren Abständen knapp zehn Bände, darunter auch ein Prosaband (2019). Im Juni 2022 starb Patrizia Cavalli im Alter von 75 Jahren in Rom.

 

Dank an Pietro Salabé
13.11.2022